Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
ein Traum sein.« Er kam einen Schritt auf sie zu und beobachtete sie genau. Mir warf er einen skeptischen Blick zu.
»Anthea Atwood«, stellte ich mich vor.
»Wittgenstein«, sagte Wittgenstein. Seine tiefe Stimme klang kratzig, nicht unähnlich der Scarlets.
Die junge Frau traute sich ebenfalls. Ging auf ihn zu. »Ich …« Die Stimme versagte ihr.
Meine Güte!
Es war keine Frage, niemals gewesen.
Dieses Gesicht, diese Stimme, sie war seine Tochter.
Die Ähnlichkeit war verblüffend.
»Ich bin Scarlet«, stammelte sie. »Scarlet Hawthorne.«
Er starrte sie noch immer nur an und sagte dann: »Aha.«
»Rima«, sagte Scarlet. Sie wollte noch so vieles sagen, aber es blieb bei dem Namen.
Es sollte genügen.
Denn allein bei der Nennung ihres Namens zuckte er zusammen. »Sie lebt?« Seine Augen begannen zu funkeln.
Scarlet nickte. »Wir leben in St. Clouds, in Minnesota.« Sie begann zu reden. »Es gibt da diesen Blumenladen.« Unwichtiges Zeug plapperte sie, aber sie musste einfach reden und reden und nicht schweigen. Nein, sie konnte nicht schweigen. Nicht hier, nicht jetzt. Sie erzählte hektisch und schnell von Rosensträuchern und den vielen anderen Sachen, die völlig unwichtig waren. Am Ende hielt sie den Mund, stand verlegen da und sagte einfach nur: »Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.«
MortimerWittgenstein lächelte dünn. »Ich auch nicht«, sagte er.
Augenblicke wehten über den Schnee.
»Sie sind wirklich … Du bist …« Er schüttelte den Kopf. »Es ist ein Traum, nicht wahr?«, fragte er Virginia Dare. Dann wandte er sich erneut seiner Tochter zu. »Wieso gerade hier?«
Er streckte ihr die Hand hin. »Bitte, ich bin nicht darin geübt, Vater zu sein.«
Scarlet ergriff seine Hand, sie war ganz kalt. »Ich weiß.«
Jetzt lächelte er.
Ergriffen.
»Das ist«, murmelte er, »einfach überwältigend.« Er lachte. »Es gibt keine Zufälle.«
»Wie geht es Ihnen?«, fragte ich.
»Oh, fragen Sie nicht«, sagten beide gleichzeitig.
Ich ergriff beider Hände und hielt sie zusammen. Mir war, als bräuchten sie jetzt jemanden, der ein wenig die Führung übernahm.
»Es ist ein Traum«, flüsterte er, und dann versagte ihm die Stimme.
»Ja, das ist es«, entgegnete Scarlet. Sie zitterte am ganzen Leib.
Das Wintermädchen lächelte sanft und sagte: »Sie müssen nur aufwachen, das ist alles.«
Wir alle fragten uns, was sie meinte.
Und dann wachten wir auf. Ein letztes Mal.
KAPITEL 3
NUR EIN TRAUM IN EINEM TRAUM
Der Himmel ist manchmal wie Wasser, ganz scharlachrot und voller Träume, die wie Bruchstücke eines schon vor langer Zeit verlorenen Paradieses zwischen den Wolken schweben. Jetzt sind wir da, wo die Nekir uns vergiftet haben. Noch immer auf dem gelben Steinweg.
Irgendwo im Nirgendwo.
»Wo sind wir?«, fragt Scarlet.
»Noch immer in der Hölle.«
Sie schaut auf, lächelt unsicher.
»Es ist vorüber.«
Scarlet setzt sich mühsam auf. »War es denn nicht nur ein Traum?«, fragt sie benommen.
Sie kann es kaum glauben. Aber wenn man etwas sieht, dann muss es wohl wirklich wahr sein, oder?
»Es war viel mehr als das.«
Sie nickt. Sie muss ihre Gedanken ordnen, bevor sie etwas sagen kann.
Dann ergreift sie die Hand, die ihr gereicht wird, und lässt sich ins Leben zurückziehen. Sie beginnt zu verstehen, wenn
auch nur langsam. Sie ist wieder hier, mitten in der Hölle, im neunten Kreis, der ein Eispalast ist; sie ist, wie könnte es anders sein, noch immer auf dem gelben Steinweg. Nein, das ist nicht ganz richtig. Nicht immer noch , sondern schon wieder oder wieder einmal , das ist der Unterschied.
Jake Sawyer, der neben Virginia Dare und Mortimer Wittgenstein steht, sieht ihr in die Augen, und dann umarmt er sie. Sie lässt es geschehen und vergräbt ihr Gesicht in seinem Haar, dann ihre Hände, ihre Küsse.
»Ich dachte …« Sie schweigt, beginnt zu weinen.
Schließt die Augen. Erst jetzt weiß sie, wie sehr sie sich nach diesem einen Augenblick gesehnt hat.
Wir anderen stehen nur da, schweigend, der Dinge harrend, die noch vor uns liegen.
»Wo sind wir?«, fragt sie erneut, später, als die Tränen verebbt sind.
»In der Hölle.« Es ist Virginia Dare, die dies sagt. »Die Nekir, die Sie vor wenigen Stunden stachen, taten dies nur aus einem einzigen Grund. Sie wurden in einen tiefen Schlaf versetzt.«
Scarlet löst sich aus der Umarmung. »Dann war das alles …?«
Doch nur ein Traum?
Niemals geschehen?
»Nein«, sagt Virginia Dare, »das wäre zu
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