Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
sich das Archiv, das vergessene Herz all des Wissens, dessen schöne Gestalt man weiter unten in den Lesesälen bewundern konnte.
»Hier werden wir ihn finden«, sagte Jake.
Nichts hatte sich verändert.
Scarlets Augen begannen sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen.
Es war eine Ansammlung von Kisten aus Holz und Pappe und Plastik, die sie erblickte; Kisten, die sich bis dicht unter der schrägen Decke stapelten. So war es schon immer gewesen. So weit das Auge blicken kann, sieht es nur Kisten. Sie ragen aus morschen Regalen, sie neigen sich schräg zur Seite, sie sind mit dicken Spinnweben behängt. Etiketten befinden sich auf ihnen. Kryptische Zahlen und Buchstaben, die irgendwann einmal einen Sinn ergaben. Die Kisten sind vollgestopft mit alten Büchern, Zetteln, Folianten, Pergamenten, Sachen und Krimskrams. Alles, was unten im Lesesaal keine Verwendung mehr findet, das landet hier oben. Zwischen den Kisten öffnen sich schmale Fenster zum Himmel. Man sieht die dunklen Wolken zwischen den Hochhäusern schweben und die dicken Schneeflocken in der Luft wirbeln. Schnörkellose Lampen hängen von der Decke, kaum mehr als Glühbirnen, die in einer Fassung baumeln, armselige Sonnen in diesem Universum aus vergessenen Buchstaben, schwindenden Bildern und siechendem Papier.
»Christo!«, rief ich aus.
Christo Shakespeare, der sich uns mit einem Stapel alter Folianten näherte, trug einen Nadelstreifenanzug, der ihn wie einen englischen Dandy aussehen ließ, und dazu Turnschuhe, die ihn wiederum gar nicht wie einen englischen Dandy aussehen ließen. Er wirkte nicht verstaubt, keineswegs. Er sah aus wie jemand, dem sich besser niemand in den Weg stellt, wenn er ein Ziel vor Augen hat, nicht nachts in Harlem und auch nirgendwo sonst zu irgendeiner anderen Zeit. Er trug silberne
Ringe an mehreren Fingern und zwei an jedem Ohr. Ein modischer Bart umspielte seinen Mund, und fast hätten die spitzen Koteletten die Mundwinkel berührt. Er war groß, ja, riesig. Er überragte Jake um gut zwei Köpfe.
Sein dunkles Gesicht mit den stechenden braunen Augen erstrahlte, als er uns erblickte.
»Anthea Atwood, Schwester«, rief er aus, »wie schön, dich hier zu sehen.« Dann, als er näher kam, verfinsterte sich seine Miene, und er fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. »Du kommst normalerweise nur zu mir, wenn du Ärger im Gepäck hast.« Er betrachtete Jake und Buster, nickte ihnen freundlich zu. Dann richtete sich sein Blick auf Scarlet. »Sind Sie der Ärger, den Anthea heute mitbringt?« Er sah ernst aus, als er das sagte, aber seine Stimme war weich und ruhig.
Scarlet wusste nicht recht, was sie sagen sollte. »Kann sein«, erwiderte sie.
Er strahlte. »Na, das ist doch immerhin eine ehrliche Antwort.« Er knallte die Bücher lautstark auf einen Tisch und schüttelte jedem überschwänglich die Hand. »Was führt euch zu mir?«
Es war Scarlet, die ihm antwortete: » Croatoan .«
Christo Shakespeare zischte durch die Zähne. »Ich sagte es ja schon, Ärger im Gepäck.« Er kratzte sich nachdenklich am Kinn, zog ein paar Grimassen, die weder sehr freundlich noch sehr unfreundlich wirkten. »In den fast vergessenen Chroniken von Washington Irving, ja, da müsste man etwas finden.« Er bedachte alle mit einem eindringlichen Blick, der vieles bedeuten konnte, und dann verschwand er in seinem riesigen, schattengetränkten Labyrinth aus Wörtern, Karten und Bücherstaub.
Scarlet beugte sich zu Jake und flüsterte ihm eine Frage ins Ohr. »Ist Shaft jetzt Bibliothekar geworden?«
Jake musste lachen. »Er hat eine schillernde Vergangenheit.«
»Ja, das glaube ich gern.«
Bevor sie weiterreden konnten, kehrte er schon zurück, einen Stapel alter Bücher unterm Arm.
»Er ist schnell«, flüsterte Scarlet.
»Ja, das ist er«, antwortete Jake.
Mit einem lauten Knall ließ Shakespeare die Bücher auf den nächsten Tisch fallen, schlug eins davon auf und ließ seinen Finger wie eine Wünschelrute über die Seiten und Buchstaben gleiten. »Ist immer gut, wenn man weiß, wo man suchen muss.« Er zwinkerte Scarlet kurz zu und suchte weiter, und irgendwann schaute er wieder auf und klopfte mit dem Finger auf eine Seite. »Da ist es, die Geschichte von Roanoke Island. Die wollt ihr doch hören, oder?«
»Schieß los!«
Er bedeutete uns, an einem Tisch Platz zu nehmen. Mit seinen großen Händen fegte er einfach alles, was darauf gelegen hatte, beiseite. Mit den Stiefeln schob er den ganzen Haufen dann unter den
Weitere Kostenlose Bücher