Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Tisch.
»Macht es euch gemütlich«, forderte er uns alle auf. Dann verschwand er kurz, und man hörte ein metallisches Scheppern, gefolgt von Schlürfgeräuschen und schnellen Schritten. »Heißer Kaffee, stark und schwarz«, grinste er und stellte die Plastikbecher vorsichtig zwischen den Büchern auf den Tisch. »Ich habe einen eigenen Automaten hier oben, was sagst du dazu?«
»Du hast dich nicht verändert.«
Er grinste noch breiter.
Buster Mandrake sprang Shakespeare auf die Schulter und schaute sich von dort das Buch an.
»Nun sagt mir, was ist passiert? Warum taucht ihr hier auf und sucht nach Croatoan?«
Scarlet sagte es ihm.
»Hm«, grummelte er, »das ist eine interessante Geschichte. Habe ich erwähnt, wie sehr ich Rätsel mag?«
Er blätterte noch einige Seiten weiter.
»Hier!«
Auch Scarlet konnte die Illustrationen erkennen. Bilder, die Indianer zeigten, ein Dorf, eine Küstenlinie mit Inseln und Riffen und Untiefen, Wälder, zwei Schiffe, einen Himmel voller Federn.
»Ich wusste es«, begann Christo Shakespeare und schnippte mit den Fingern. »Washington Irving hat darüber geschrieben. Er hat der Geschichte ein ganzes Kapitel gewidmet.« Seine Stimme war ruhig und doch mächtig wie altes, warmes Holz, das sanft im heißen Feuer knistert. »Roanoke Island«, ließ er sich das Wort auf der Zunge zergehen wie ein Aroma aus Minze und Nacht. »Roanoke Island, müsst ihr wissen, ist eine Insel vor der Küste North Carolinas.«
»Was ist dort geschehen?«, fragte Jake.
Shakespeare pfiff erneut durch die Zähne. »Vieles, Jake Sawyer, vieles.« Er seufzte, als habe er eine lange Geschichte zu erzählen. »Roanoke Island war die Heimat der Secotan.« Er blickte kurz von einem zum anderen. »Das ist ein Stamm der Algonkin.«
Scarlet berührte ihr Amulett.
Shakespeare bemerkte es und sagte: »Das ist …«
»Algonkin«, kam ihm Scarlet zuvor.
»Wer sagt das?«
»Mistress Atwood.«
Christo Shakespeare betrachtete das Amulett genauer und schüttelte den Kopf. »Anishinabe, würde ich sagen.« Gespielt tadelnd fügte er noch süffisant grinsend hinzu: »Anthea, Schwester, da hast du dich geirrt.«
»Tja, dann ist es eben Anishinabe.«
»Ein Unterschied«, bemerkte er.
»Ein kleiner.«
»Aber feiner.«
Ich zog ein Gesicht, gespielt beleidigt.
Und Christo Shakespeare fuhr fort. Seine dunklen Augen flogen über die Zeilen des Buches, das vor ihm ausgebreitet auf dem Tisch lag. »Roanoke Island war ein Ort, der Schönheit und Überfluss war.« Er schilderte ein irdisches Paradies. »Es gab dort richtige Gärten und überaus reiche Ernten. Squash, Bohnen, Sonnenblumen, Kürbisse, Amarant, Tabak und Mais.«
Vor Scarlets Augen entstand ein Bild, das sie einatmete, als sei es ihre eigene Vergangenheit. Sie konnte die Meerengen fast sehen und die Wälder fast riechen, ebenso die Flüsse und die vielen Sandbänke vor den Inseln. Sie sah Indianer, die mit Speeren, Netzen und Reusen aus Schilfrohr auf Fischfang gingen. Sie standen im seichten Wasser. Die Frauen sammelten Krebse, Nüsse, Muscheln, Beeren und Schildkröten.
»Doch dann«, hörte sie Shakespeare sagen, »kamen die Engländer. Und das Paradies ging verloren.«
Zwei Schiffe waren es gewesen, die eines Morgens am Horizont auftauchten. Der Häuptling der Secotan begrüßte die Neuankömmlinge freundlich, und dann tauschten die India ner mit den weißen Menschen aus dem fernen Land die Güter,
die sie besaßen: Leder, Korallen und Farben gegen Äxte, Beile und Messer.
»Den Engländern gefiel, was sie sahen.«
Sie gründeten die erste englische Siedlung auf amerikanischem Boden. Die vielen Gesetze, die sie selbst in einem fernen Land gemacht hatten, gaben ihnen das Recht dazu.
»Im Jahre 1584 entschieden die beiden englischen Seefahrer Arthur Barlowe und Philip Amadas endgültig, dass Roanoke Island eine englische Kolonie werden sollte.«
Die Bestände an Wild und Fisch waren reichhaltig, das Klima hätte besser nicht sein können, die Ernten konnten sogar zweimal im Jahr eingefahren werden, es gab alle möglichen Arten von Früchten, Nüssen, Melonen, Kürbissen, Erbsen, verschiedene Wurzeln und vieles mehr, all das sehr wohlschmeckend.
»Doch dann reisten die Schiffe wieder ab.«
Scarlet stellte sich vor, wie die Zurückgebliebenen in kleinen Gruppen am Ufer standen und ihnen hinterhersahen. Sie stellte sich die englischen Siedler in ihren Kleidern vor. Fremde in einer fremden Welt.
Einer Welt, die nicht weniger fremd wurde, nur
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