Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
könnte man sagen.«
Das klingt interessant , sagte Lord Astor.
Und ehrlich . Lady Lenox trottete auf sie zu. Auch sie hatte eine wallende Mähne. Wie wir doch sicherlich alle wissen, sind die Menschen nicht ohne Fehler. Sie seufzte, tief und grollend. Edward Clark Potter, so heißt unser Vater. Er war Bildhauer, und im Auftrag des Bürgermeisters, Master LaGuardia, wurden wir geboren, erschaffen aus Stein und reinster Tugend. Als John Jacob Astor und James Lenox anno 1849 diese Bibliothek eröffneten, da waren wir schon da. Dummerweise hatte Master Potter vergessen, dass ich eine Dame bin. Und Löwendamen besitzen normalerweise keine Mähne. Doch mich hat er mit einer bedacht. Sie lachte auf wie eine Katze, die viel von der Welt gesehen hat. Eine Lady bin ich dennoch, Mähne hin oder her.
Scarlet lächelte glücklich. Sie fühlte sich unerklärlich und überraschend wohl in der Gegenwart der großen Tiere.
Dann erzählte sie den Löwen, was sie wusste. Vom Park, den Wendigo, ihrer Ratlosigkeit.
Eine Bibliothek bringt Antworten , sagte Lady Lenox. Bücher sind eine gar mächtige Waffe.
Deswegen bewachen wir die Bibliothek seit dem glorreichen Tag ihrer Gründung. Lord Astor schnaufte und schüttelte sich den Schnee von den Pfoten.
»Ich kann mich daran erinnern«, gestand ich, »es war ein wundervoller Tag.«
»Sie sind damals dabei gewesen?«, fragte Scarlet erstaunt.
»Ja. Doch das ist lange her, nicht wahr?« Ich kicherte und gab Buster einen Nasenstüber. »Ich war jung damals.«
Habt Ihr Neuigkeiten erfahren ?, wollte Lady Lenox wissen. Der Wind trägt die seltsamsten Geschichten durch die Nacht. Die Tauben sind geschwätzig. Und Wendigo wandeln in den Straßen. Sie knurrte . In wahrhaft seltsamen Zeiten leben wir.
»Wir kommen geradewegs aus dem Dakota«, sagte ich und berichtete ihr von Master Van Winkle.
Die Steinlöwin trat näher an Scarlet heran und schnüffelte an ihrer Kleidung.
Diesen Geruch , murmelte sie, kenne ich .
Scarlet schaute auf. »Ihr meint, ich bin schon einmal hier gewesen?« Immer mehr fügten sich die Puzzleteile ihrer Vergangenheit zusammen. Das jedenfalls hoffte sie inständig.
Nein, dies ist nicht Euer Geruch. Es ist der Geruch eines Mannes . Die Löwin bewegte die Tatzen, voller Ungeduld, ihre Krallen kratzten über den Stein unter dem Schnee. Eines jungen Mannes. Nur wenig älter als Ihr, Miss Hawthorne . Anfang dreißig, würde ich schätzen. Er ist nicht von hier.
Lord Astor kam jetzt auch auf sie zugetrottet. Der Geruch der Wildnis haftet an ihm. Dichte Wälder, weite Ebenen, klare Seen. Er ist einer von denen, die hier in Amerika geboren wurden. Das Blut der ursprünglichen Völker fließt durch seine Adern.
Lady Lenox nickte langsam. Er ist es, ich bin mir sicher. Das ist sein Geruch. Er ist hier gewesen. Sie hob den Kopf und sah ihren Gefährten ernst an . Er war der Einbrecher .
Die beiden Steinlöwen musterten Scarlet eindringlich.
»Welcher Einbrecher?«
Jake trat neben sie.
Gestern am frühen Abend drang jemand in die Bibliothek ein , erklärte Lady Lenox.
»Was hat er getan?«, wollte Scarlet wissen.
Er hat gelesen, antwortete Lady Lenox . Er hat Wissen gesucht, obwohl die Bibliothek geschlossen war.
Das ist kein schlimmes Vergehen, brummte Lord Astor .
»Deshalb habt Ihr ihn laufen lassen?«
Wie gesagt, er hat nichts Schlimmes getan.
Er hat nichts gestohlen.
Und Lady Lenox fügte hinzu : Seinen Geruch erkennen wir trotzdem wieder. Wir sind immerhin die Wächter.
»Und ich rieche nach ihm?«
Beide Löwen nickten.
Buster Mandrake, der sich die ganze Zeit über bedeckt gehalten hatte, merkte an: Ich rieche nichts .
Die beiden Löwen beachteten ihn gar nicht. Ihre Blicke galten Scarlet.
Und Scarlet dachte an all die Dinge, die sie nicht mehr wusste. »Bin ich vielleicht mit ihm gemeinsam hier gewesen?«
Lord Astor verneinte. Es ist nicht Euer Geruch, den wir erkennen. Nur seiner .
»Und Ihr seid sicher, dass er nur Wissen gesucht hat?« Scarlet wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte. »Ich meine«, erklärte sie leise, Jake zugewandt, »ich würde gern wissen, was für ein Mensch mein Freund war.«
Woher wisst Ihr, dass es Euer Freund war?, fragte Lady Lenox.
Scarlet erzählte ihr von Thoreau.
Ich sagte es ja bereits , knurrte Lord Astor, wir leben in gefährlichen Zeiten. Die Dinge ändern sich. Etwas ist nicht richtig in der Stadt. Es liegt etwas in der Luft, und es passieren zu viele Dinge, die scheinbar nur durch Zufälle
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