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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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ich ihn nur aufgesucht?« Sie berührte ihr Haar. »Ich hatte die Haare schon gefärbt, als ich zu ihm ging.«
    »Sie haben gesehen, wie er gelebt hat.« Ich nippte an meinem Espresso. »Seien Sie mir nicht böse, aber er empfängt normalerweise niemanden, der gekleidet ist wie Sie. Die Van Winkles sind eine der Familien, die von Anfang an hier waren. Mit den ersten Schiffen kamen sie in die Neue Welt. Man sagt, dass Van Winkles’ Ahnen mit Raleighs Schiffen hergekommen sind. Sie haben die Stadt mit aufgebaut.«
    Scarlet hörte mir gar nicht zu. »Ich war wütend, aber warum?«
    »Er hat dich verletzt«, sagte Jake.
    Scarlet nickte.
    »Ergibt das einen Sinn?« Die Frage war an niemanden gerichtet und zugleich an die ganze Welt.
    Ich schaute nach draußen. »Alles, junge Miss Scarlet, ergibt einen Sinn. Die Schwierigkeit liegt allerdings darin, den Sinn zu erkennen. Wir laufen herum und sammeln Puzzlestücke ein, ja, das ist genau das, was wir tun. Da sind Bruchstücke von Bildern, aber noch immer kein Sinn, kein Zusammenhang. Genau das ist unser Problem.«
    » Croatoan , was bedeutet das?«
    »Es gibt eine Geschichte, an die ich mich kaum erinnere. Deswegen suchen wir Master Shakespeare auf. Er arbeitet in der Public Library und ist ein guter Freund. Darüber hinaus ist er der Mann, dem man die Fragen stellen sollte, auf die man Antworten erhalten will.«
    »Und wie ist er?«, fragte sie.
    »Christo Shakespeare?«
    »Ja.«

    Ich lächelte. »Er ist seltsam«, antwortete ich, »ja, er ist seltsam. Sie werden schon sehen.«
    »Und die Geschichte?«
    »Ist eine Art Geistergeschichte.«
    »Erzählen Sie sie uns?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Es gibt viele Geschichten wie diese. Sie handeln allesamt von Orten, an denen Menschen verschwunden sind. In allen diesen Geschichten gibt es keinerlei Hinweise auf den Verbleib der Menschen. Aber meistens gibt es ein rätselhaftes Wort oder aber einen rätselhaften Gegenstand. Irgendetwas, was die ganze Geschichte zu einem Rätsel macht. In diesem Falle war Croatoan das Wort, das am Ort des Geschehens zurückgelassen wurde.« Ich machte eine Pause, leerte den Espresso. »Seltsam daran ist allemal, dass Sie sich nach diesem Wort erkundigt haben. Aber ich bin gewiss keine gute Geschichtenerzählerin. Master Shakespeare ist der Experte in solcherlei Angelegenheiten.« Mit einer eiligen Handbewegung rief ich den Ober herbei. »Und weil die Zeit nun mal drängt«, sagte ich, »und alle endlich satt sind, sollten wir jetzt gehen.«
     
    Wir folgten der West 42nd Street sechs Blöcke weit bis zum Bryant Park, an dessen einem Ende sich die Säulen der New York Public Library erhoben. Die zwei Löwen aus wei ßem Stein wachten seit jeher über das Heim der vielen alten Bücher, so dass sie einem schon wie gute Vertraute vorkamen. Wenn sie sich bewegten, dann knirschten ihnen die Gelenke, und wenn sie, wie jetzt, den Schnee aus den Mähnen schüttelten, dann konnte man erkennen, wie falsch die Menschen doch lagen, wenn sie Stein als leblose Materie abtaten.

    »Keine Angst«, beruhigte ich Scarlet, »die beiden sind uns wohlgesinnt. Sie gehören zu den Guten.«
    Der größere der beiden Löwen sprang von seinem Sockel und trottete auf uns zu. Ein tiefes Grollen kam aus seinem Inneren.
    »Das ist Lord Fortitude Astor«, sagte Jake, der offenbar keine Angst vor den Tieren hatte.
    »Sind sie lebendig?«, fragte Scarlet. »Ich meine, weil …«
    »Weil sie aus Stein sind?« Jake verneigte sich vor dem Löwen.
    »Hm«, machte Scarlet nur. Sie konnte den Blick gar nicht abwenden von der Schönheit der Tiere.
    Wir grüßen Euch, Mistress Atwood , sagte Lord Astor.
    Der andere Löwe blieb am Fuße der Treppe stehen. Ihr bringt Gäste mit. Es war eine Feststellung.
    »Das ist Lady Patience Lenox«, erklärte Jake.
    »Wir möchten zu Christo«, sagte ich.
    Lord Astor neigte sein steinernes Haupt. Master Shakespeare befindet sich im Archiv.
    »Sie können ihn kraulen, er mag es.«
    Scarlet streckte vorsichtig die Hand aus.
    Ich beiße sie Euch bestimmt nicht ab , sagte der Löwe.
    Und Lady Lenox merkte an: Das sagt er immer. Jeder Einarmige in New York wird Euch das bestätigen. Sie grinste, wie nur ein steinerner Löwe es zu tun vermag.
    Scarlet kraulte die Mähne Lord Astors. »Sie fühlt sich warm an.«
    Ein Herz aus Stein zu haben , sagte der Löwe, ist besser, als gar kein Herz zu haben.
    »Ich bin Scarlet Hawthorne.« Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. »Ich bin auf der Suche nach mir selbst,

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