Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Müdigkeit, die langsam von ihr Besitz ergriffen hatte, fiel von ihr ab wie die Hoffnung, dass alles besser werden würde.
KAPITEL 8
SCHIFFE, DIE DES NACHTS VORÜBERFAHREN
»Was hast du?«, wollte Jake wissen.
Scarlet spürte, wie alles in ihr erstarrte.
Zuerst war es nur ein Lufthauch gewesen, leicht und vage und kaum mehr als eine Andeutung, ein Frösteln auf der Haut, dessen Ursprung man nicht einmal erahnt. Doch dann schwebte schon die erste Schneeflocke durch den Raum. Sie trat aus der dichten Dunkelheit zwischen den Regalreihen hervor, wurde über die Kisten getragen und legte sich schließlich auf den Tisch, mitten auf die Seiten des aufgeschlagenen Buches. Sie hockte da, irgendwie dreist, inmitten der Buchstaben und Schnörkel.
Scarlet erschauderte.
Noch immer hallte der Satz in ihrem Kopf nach: die Vorfahren der Eistoten sind in Croatoan gestorben. Die Vorfahren derjenigen, die zu Eistoten in der Stadt der zwei Flüsse werden.
Und dann schneite es im Archiv.
Einfach so.
Scarlet, die schon beim Anblick der einzelnen Schneeflocke auf dem Buch erstarrt war, spürte, wie sich ein Schwindelgefühl
ihrer bemächtigte. Der ganze Raum begann sich zu drehen, ihr wurde heiß und kalt zugleich.
Es war keines der Fenster geöffnet.
Gerade hatte sie noch an das Porträt gedacht, an John White. Daran, dass sie dieses Gesicht woanders schon einmal gesehen hatte. Sie hatte sich gefragt, wohin sie das alles noch führen würde. Tausende von drängenden Gedanken hatten sie bestürmt, ein ganzes Universum wirrer Mutma ßungen, wild und zügellos dahingedacht im Eifer des Augenblicks.
Was hatte sie mit all diesen Dingen zu tun? Wo lag des Rätsels Lösung?
So viele Fragen.
Und dann war einfach so die Schneeflocke aufgetaucht. Plötzlich.
Unverhofft.
Gefolgt von einem Schwarm weiterer Flocken, alle dicht und weiß und eisig kalt.
Und schon brach die Hölle los. Sie sprach keine Warnung aus, nichts. Da waren nur die Schneeflocken, die ankündigten, was bereits in dem Dämmerlicht lauerte und in Erwartung der baldigen Jagd die Augen zusammenkniff, Witterung aufnahm, zum Sprung bereit.
Scarlet sah Jake an, erblickte ihr Spiegelbild, das in seinen Augen schwamm.
Mit einem Satz kam der Wendigo aus der Dunkelheit hervor.
Er knurrte.
Tief und grollend war das Geräusch, wie ein Versprechen des Übels, das er in sich trug. Mit einer unglaublich schnellen Bewegung sprang er auf den Tisch zu. Zeit würde er keine
verlieren, so viel war sicher. Der lange Arm fuhr hernieder, und das Holz krachte.
Christo Shakespeare fluchte laut und wich nach hinten aus. Sein Stuhl fiel um.
»Mistress!«, schrie Scarlet.
Ich ließ mich zur Seite fallen. Die Klaue der Kreatur verfehlte mich nur äußerst knapp.
»Laufen Sie fort!«, rief ich Scarlet zu. »Egal, was geschieht, verschwinden Sie!«
Das war alles.
Nur dieser Ratschlag.
Dann versank das Archiv in einem Gestöber aus Schnee, als wären mit einem Mal alle Fenster aufgerissen worden. Die eisig wirbelnden Flocken formten sich in Windeseile zu Körpern, wie Scarlet sie bereits am nächtlichen Washington Square gesehen hatte.
Das wilde Gestöber verdichtete sich rasend schnell, als sei es ein schlechter Traum, und wurde festes Gewebe, weißes Fell, Knochen, Zähne, Klauen.
Scarlet wusste, was geschehen würde. Sie hatte es bereits gesehen, alles. Und sie hatte kein Interesse daran, es erneut zu erleben.
Doch schon sah sie die geifernden Bestien.
Wendigo.
Es waren drei an der Zahl.
Sie waren groß, nahezu riesig. Und sie hatten Scarlet ausfindig gemacht. Ihre massigen Köpfe berührten, wenn sie auf den Hinterläufen standen, fast die Decke des Raumes. Sie gingen leicht gebeugt, ein wenig wie Gottesanbeterinnen, die Klauen ausgestreckt.
Buster Mandrake sprang mit einem Fiepen in ein Regal
hinein. Sein Schwanz verschwand in den Buchreihen, dann war er fort.
Die alten Bücher und beschriebenen Zettel, die eben noch vor uns auf dem Tisch gelegen hatten, fielen mit einem Poltern und Rascheln zu Boden, als die Tischplatte von einer Wendigo-Pranke in zwei Hälften geteilt wurde. Holz splitterte, und dumpfes Knurren erfüllte den Raum.
Scarlet spürte eine Hand, die ihre ergriff.
Es war Jake Sawyer.
Er zog sie mit sich fort, ohne etwas zu sagen, schnappte sich eilig und wie beiläufig den alten abgeschabten Ledermantel und ihren bunten Flickenmantel. Dann rannte er, Scarlet Hawthorne im Schlepptau, ins Treppenhaus hinaus.
»Wo sollen wir hin?«
»Fort von hier«, sagte
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