Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Schneegestöber erwartete.
Sie verließen die Subway in der Chambers Street und sahen schon von dort aus die Silhouette der zu dieser frühen Abendstunde bereits hell erleuchteten Brooklyn Bridge. New York war wieder einmal zur Stadt des Lichts geworden.
Scarlet schlug den Kragen ihres Flickenmantels höher und war froh, den Untergrund verlassen zu können. Gierig atmete sie die frische Luft ein, und sofort breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, das hier oben nicht mehr so hart und unnahbar wirkte wie eben noch, als sie in dem überfüllten Zug zwischen all den fremden Menschen eingepfercht gewesen waren.
»Wie fühlst du dich?« Jake ging neben ihr her, die Hände tief in den Taschen vergraben, die Mütze ins Gesicht gezogen.
Sie betrachtete die riesige Brücke, die hell erleuchtet den Fluss überspannte. »Glaubst du, dass wir Lady Solitaire finden werden?« Schneeflocken stöberten wie einsame Tänzer durch den Nachthimmel. Eigentlich wollte sie jetzt nicht reden.
Queequeg ging voraus, er war bereits in die nächste Stra ße eingebogen. Er war wachsam.
»Mit ein wenig Glück werden wir das«, sagte Jake. »Aber wir haben nicht die geringste Ahnung, was sie tun wird. Wir wissen nicht einmal, wer genau sie ist. Oder was du mit ihr zu tun hast.« Er blickte Scarlet besorgt an und fügte leise hinzu: »Wir wissen nicht, was sie ist.«
Scarlet blieb stehen. »Warum tust du das?«, fragte sie, weil sie genau an diese Frage gedacht hatte.
»Was meinst du?«
»Mir helfen. Du bringst dich doch nur in Gefahr. Dabei kennst du mich gar nicht.« Sie versuchte ein zögerliches Lächeln, das ihr misslang. »Vielleicht bin ich gar kein netter Mensch?« Sie wusste nicht, warum sie das gerade jetzt zur Sprache brachte. »Vielleicht gehöre ich zu den Bösen?« Alles war möglich, das war ja das Schlimme.
»Nein, das glaube ich nicht. Du gehörst nicht zu den Bösen.«
»Was macht dich da so sicher?«
»Du bist einfach nicht böse.«
»Bist du ein guter Menschenkenner?«
»Nein, eigentlich nicht. Aber …«
»Aber was?«
Er schaute in den wolkenverhangenen Nachthimmel hinauf. Zu den Lichtern, die hinter all den Fenstern brannten.
»Scarlet«, sagte er schließlich. Sonst nichts.
»Das ist keine Antwort«, entgegnete sie.
»Scarlet«, wiederholte er ihren Namen. »Scarlet, Scarlet, Scarlet.« Er zog sich die Mütze ins Gesicht. »Doch«, sagte er, und ein beschwingtes Grinsen begleitete seine Worte. »Doch, das ist es. Das ist die Antwort. Scarlet.« Dann drehte er sich auf dem Absatz um. »Komm!« Und schon stapfte er durch den tiefen Schnee, der den Gehweg bedeckte. Dorthin, wo Queequeg auf sie wartete, am Fuße der Treppe, die zur Brooklyn Bridge hinaufführte.
Scarlet zögerte kurz.
Sie schaute Jake Sawyer hinterher, und ihr wurde bewusst, dass er einfach so in ihrem Leben aufgetaucht war. Eigentlich kannte sie ihn praktisch nicht, und Jake kannte sie seinerseits ebenso wenig. Trotzdem war er da. Sie fragte sich, was
das zu bedeuten hatte. Ob es etwas zu bedeuten hatte. Dann spürte sie das Amulett an ihrem Hals, und die Gewissheit, dass es da jemanden in ihrem Leben gegeben hatte, den sie einfach so vergessen hatte, ließ sie erneut verzweifeln. Erst vor wenigen Stunden noch hatte sie das Blut eines Menschen von ihren Händen gewaschen. Jetzt war sie hier und …
Nein, sie sollte darüber nicht nachdenken.
Es war nicht gut.
Falsch.
Das war genau das, was es war. Es war falsch, nicht richtig.
Sie spürte, wie sie zu gehen begann. Es war, als gleite sie durch einen Traum, so unwirklich und doch ganz klar. Da war die Stadt mit ihren Geräuschen und den vielen Menschen. Drüben, auf der anderen Flussseite, war Brooklyn, ein Meer aus Lichtern.
»Da ist sie«, sagte Queequeg, als sie bei ihm ankam.
Die riesige Brücke, die vor ihr aufragte wie ein Monument aus uralter Zeit, verband Manna-hata mit Brooklyn. Für viele Menschen war sie das Tor zu einem Traum von einem besseren Leben gewesen. So viele Einwanderer hatten sie erblickt und erkannt, zu welchen Leistungen die Menschen fähig waren, wenn sie ihre Träume verwirklichen wollten. Die Sehnsuchtsbrücke, dort war sie. Dicke Tragseile aus Stahl hielten die Brücke zwischen den beiden Pylonen hoch in der Luft. Nahezu vierzehntausend Meilen Drahtseil waren kreuz und quer über den Fluss verspannt worden, gebündelt in vier gewaltigen Kabeln, die sich über die Pfeiler zogen und dann an beiden Enden in Ankerplatten befestigt waren, die
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