Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
wiederum in mehr als drei Stockwerke hohen Granitkammern versenkt worden waren.
»Jedes der vier Hauptseile«, erklärte Queequeg ihr, als sie
die Treppe zum Fußgängerweg der Brücke hinaufliefen, »besteht aus neunzehn Strängen, die sich aus zweihundertachtundsiebzig Stahldrähten zusammensetzen. Die Drähte sind nicht verdreht, sondern parallel verlegt, und sie werden von einer Eisenzwinge zusammengehalten.« Seine Worte im Wind klangen wie die eines Fremden von weither.
»Warum sagen Sie mir das alles?«, fragte Scarlet und schaute zu Jake, der mit in den Manteltaschen vergrabenen Händen dastand und den Anblick zu genießen schien.
»Weil wir dort hinaufsteigen werden.«
Scarlet war jetzt oben auf der Brücke angekommen.
Sie blieb stehen.
Sie spürte die Schneeflocken in ihrem Gesicht. Die Brücke vibrierte unter dem Verkehr, der mehr als fünf Meter unter ihren Füßen in beide Richtungen lief. Scarlet stand da, und ihr Blick folgte fassungslos den Seilen in die Höhe.
»Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Doch, ist es.«
»Kann es nicht sein.«
»Doch, es kann.«
Sie schluckte. »Warum, in aller Welt, müssen wir dort hinauf, wenn dort im Winter keine Spinnen sind?«
Jake regte sich nicht. Er starrte nach oben, und sie hatte keine Ahnung, was gerade in seinem Kopf vor sich ging.
»Die Spinnen leben in der Winterzeit im Inneren der Brückenpfeiler«, sagte Queequeg, »das ist richtig. Aber der Eingang zu ihrer Kolonie, der befindet sich dort oben.«
Sie betrachtete die beiden Pylonen, neugotische Giganten, so gewaltig und mächtig wie die Titanen selbst. Wie mächtige Säulen ragten sie aus den eisigen grauen Fluten des East River heraus.
»Warum das?«
»Weil sie nur ungern Besuch bekommen.«
Jake murmelte: »Und die Zahl der Besucher reduziert sich extrem, wenn man den Eingang so wählt, dass er sich dort oben befindet.« Er klatschte in die Hände. »Es wird nicht besser, wenn wir hier stehen bleiben und nach oben schauen.«
Sie befanden sich auf der Brückenrampe. Die Drahtseile stiegen unaufhörlich in die Höhe.
Scarlet spürte, wie sich alles in ihr verkrampfte. »Wir müssen wirklich dort hinauf?«
Queequeg und Jake sahen einander an.
»Okay, dumme Frage«, murmelte Scarlet.
Der Tunnelstreicher stieg über die Absperrung, griff nach den Halterungen, die neben den dicken Drahtseilen entlangliefen. »Sie müssen sich gut festhalten«, sagte Queequeg und setzte seinen Stiefel auf das meterbreite Drahtseil.
»Das wäre mir nie und nimmer eingefallen«, schimpfte Scarlet laut. Sie musste schimpfen, denn das war das Einzige, was sie ihre Angst in den Griff bekommen ließ. Dann schwang sie sich auf das Drahtseil und folgte Queequeg in die Höhe.
Der Tunnelstreicher betrat als Erster das Hauptseil. Es war breit genug, um bequem darauf gehen zu können. Wäre es ebenerdig verlaufen und in geringer Höhe, Scarlet hätte nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, ob sie es tun sollte. Doch die Stahlseile liefen steil ansteigend in die Höhe. Weit, weit vor sich erkannte Scarlet den ersten Brückenpfeiler. Sie fragte sich, wie hoch der Pfeiler war.
»Ich bin dicht hinter dir«, sagte Jake.
Scarlet drehte den Kopf zur Seite. »Wenn ich stürze, dann reiße ich dich mit in den Tod.«
Tolle Aussicht.
Sie war wütend. Sie hasste sich dafür, diesem Tunnelstreicher zu folgen. Sie würde sich ihre Angst nicht anmerken lassen. Jedenfalls würde sie sich alle Mühe geben.
Aber sie hatte Angst.
O ja, und das nicht wenig.
Sie mochte keine Höhen. Das spürte sie jetzt ganz deutlich. Die Stahlseile waren rutschig und vereist. Hände und Gesicht begannen ihr vor klirrender Kälte zu brennen. Ein scharfer Wind wehte, und zwar umso stärker, je weiter sie die Brücke erklommen. Tief unter ihnen erkannte sie Schiffe auf dem East River. Die Hochhäuser Manna-hatas funkelten in der Dunkelheit.
»Ich muss total verrückt sein, dass ich mich auf das alles einlasse«, schimpfte sie und achtete dennoch darauf, nicht abzurutschen. »Völlig bescheuert, verdammt noch mal.«
»Du machst das gut«, hörte sie Jake hinter sich sagen.
Oh, das hatte ihr gerade noch gefehlt. Ein wohlgemeintes Kompliment. »Du könntest die Klappe halten«, rief sie in den heulenden Wind hinein.
Jake lachte, war aber so dicht bei ihr, dass er sie hätte packen können, wenn sie abgerutscht wäre.
Dennoch ärgerte sie seine Bemerkung.
Was bildete er sich ein? Sie hatte zwar ihre Erinnerung verloren, aber sie war nicht
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