Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
sein wollte.
Einen Moment lang stand sie regungslos da. Pechschwarzes Haar fiel ihr ins Gesicht. »Wenn man glücklich ist, dann ist man sich dessen so selten bewusst«, flüsterte sie. »Doch wenn die Zeit vergeht, dann spürt man, was einem das Glück einst war.« Sie sah Jake jetzt in die Augen, sah sich selbst darin, irgendwo in der Tiefe, die ihr fremd war. »Alles ist doch nur ein Moment«, seufzte sie, »ein Moment, der vergeht und einen allein im kalten Wind zurücklässt.«
Jake zog sie zu sich, umarmte sie.
Hielt sie fest.
Scarlet ließ es geschehen, schloss die Augen, fragte sich, wo dieser Moment so plötzlich aufgetaucht war.
»Das hier«, flüsterte Jake ihr sanft ins Ohr, »das hat nichts zu bedeuten, weißt du?!«
Sie nickte schnell und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. »Ja, ich weiß, das hat es nicht.« Sie klammerte sich an ihn, einfach so, weil der Moment da war und sie mittendrin.
Eine Weile standen sie still da.
Der Wind wehte an ihnen vorbei, und dann war der Moment vorüber, bevor er begonnen hatte. Später einmal würden sie sich an ihn erinnern wie an einen viel zu kurzen Augenblick, der ihnen zufällig zugeweht war wie ein flüchtiger Hauch von vertrautem Zögern und zögerlicher Vertrautheit zwischen verwirrten Herzen, die am unteren Ende des grauen Winterfirmaments standen.
»Wir sind noch immer hier«, sagte Jake.
»Ganz oben.«
»Der beste Platz auf der ganzen Welt.«
Scarlet musste lachen. Dann wurde sie nachdenklich. »So viele Sterne, und doch ist es dunkel.«
Sie lösten die Umarmung, als sei sie etwas Falsches gewesen. Standen da und sahen einander an.
»Kommt schon!«, rief Queequeg. »Es ist kalt hier oben.«
Jake drehte sich von Scarlet fort, ging schnell zu Queequeg hinüber. Und als Scarlet ihm folgte, da sah sie, was die beiden dort betrachteten.
Es war eine Luke, die in den Boden eingelassen war. Sie war verschlossen. Eine Falltür befand sich dort. Queequeg hatte den Schnee entfernt, und doch sah sie weiß aus.
Da erkannte Scarlet, dass es keine Falltür aus Stahl war, sondern ein feines Gebilde aus vielen Spinnennetzen, kunstvoll verwoben von Abertausenden winziger Tiere, die irgendwo in dem mächtigen Bauwerk, auf dem sie gerade standen, lebten. Queequeg berührte es, indem er die flache Hand darauflegte und klickende und klackende Laute mit dem Mund formte. Es klang befremdlich, als trete jemand auf Popcorn.
Das Klicken und Klacken wurde erwidert, von Abertausenden von Stimmen, filigran und zart, wie es schien.
Der Tunnelstreicher ließ die wuselnden Geräusche, die aus dem Inneren des Pfeilers nach draußen drangen, den Wind berühren. Erst dann durchstieß er das Netzwerk, schob die Netze beiseite und öffnete den Zugang zu der verborgenen Kolonie der Arachniden im Inneren der Brooklyn Bridge.
»Willkommen«, sagte er, »in der Kolonie der Spinnen von Gotham.«
Schnell wie ein Schatten verschwand er in der Dunkelheit, und Scarlet und Jake blieb gar nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
KAPITEL 12
DIE SPINNEN VON GOTHAM
Drinnen befand sich ein Treppenhaus, das in die Tiefe führte. Die Finsternis ließ einen großen Raum erahnen. Die Schritte hallten von den Wänden wider, als befänden sie sich in einer Kirche.
»Es geht abwärts«, murmelte Scarlet. Ihr war nicht besonders wohl bei dem Gedanken an das, was sie gerade vorhatten. Etwas Weiches schwebte in der Luft und benetzte ihr Gesicht.
Sie erschrak und schüttelte sich.
Fäden!
Ja, das musste es sein.
Feine Fäden!
»Spinnenfäden«, hörte sie Jake sagen. Er ging dicht vor ihr her und wischte sich die Spinnenfäden aus dem Gesicht. Überall waren sie, winzige klebrige Teile von Netzen. Sie schwebten wie unendlich feine Fäden durch die Nacht, die in dem Pylon zu Hause war.
Der Brückenpfeiler, das begann Scarlet jetzt langsam zu erkennen, war wie eine Kathedrale, ein Raum, so riesig, dass er von außen fast schon kleiner wirkte. Es roch von tief, tief
unten nach den Fluten des East River, modrig und nach Fäule, eisig und grau. Scarlet musste unwillkürlich an den Keller eines alten Schlosses denken. Sie war sich sicher, dass sie noch nie in einem Schlosskeller gewesen war, aber das, was sie roch, erinnerte sie an die Keller in alten Filmen, vor denen sie sich als Kind gefürchtet hatte. Schwarz-weiße Geschichten mit Bela Lugosi, Boris Karloff und Lon Chaney Junior. Wo sie diese Filme gesehen hatte, konnte sie nicht sagen. Aber sie war sich sicher, dass sie sie gesehen
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