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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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dämlich.
    Sie beschloss, einfach weiterzugehen.
    Sich zu konzentrieren.
    Mit pochendem Herzen starrte sie auf ihre Stiefelspitzen, tat langsam einen Schritt nach dem anderen, immer und immer weiter.
    Queequeg bewegte sich einige Meter vor ihr sehr schnell
und geschmeidig das Drahtseil hinauf. Nur ab und zu warf er einen Blick zurück. Offenbar schien wenigstens er darauf zu vertrauen, dass sie den Aufstieg schaffte.
    Sie ging und ging.
    Sehr viel langsamer konnte die Zeit da unten in der ur alten Metropole auch nicht verstreichen.
    Vor sich erkannte sie in dem Gestöber aus dicken Schneeflocken den ersten Pylon. Wie ein rettendes Eiland ragte er aus der Nacht auf. Scarlet verzog das Gesicht, weil ihre Hände schmerzten. Die frostigen Winde kratzten ihr boshaft an der Haut, so dass sie das Gefühl hatte, als würde sie reißen. Trotzdem schaffte sie es, sich an den Halteseilen vorzutasten. Schritt für Schritt gelang ihr der Aufstieg, und endlich, nach einer Ewigkeit, die sie Jahre ihres Lebens gekostet zu haben schien, erreichte sie den ersten Brückenpfeiler.
    Queequeg erwartete sie bereits. Er streckte die Hand aus und zog sie auf die Plattform.
    Scarlet atmete durch. Ihr Herz raste.
    Sie hatte es tatsächlich geschafft.
    Dies war der höchste Punkt der Brooklyn Bridge. Sie schaute zu dem anderen Brückenpfeiler. Ein Netzwerk aus Stahlseilen umspannte die Nacht über dem East River, erleuchtet von eingeflochtenen Lampen. Sie erkannte die Spinnennetze, die dazwischen im Wind vibrierten. Glitzernde, funkelnde Schneeflocken hatten sich in ihnen verfangen. Spinnen sah sie keine.
    »Geschafft!« Jake war bei ihr.
    Sie schaute ihn wütend an.
    Er grinste frech zurück, schob sich die Mütze zurecht, hauchte sich in die Hände.
    Queequeg machte sich an etwas am Boden zu schaffen.
    Scarlet stand neben Jake auf der Plattform.
    Beide schwiegen sie.
    Vor ihnen breitete sich Gotham in seiner ganzen Pracht aus. Die Spitze der Insel mit den Wolkenkratzern, gesprenkelt mit kleinen Lichtern.
    Der Wind heulte hier oben und war so eisig, wie man es sich unten nicht vorzustellen vermochte.
    »Wie fühlst du dich?«, fragte Jake.
    Scarlet atmete die kalte Luft ein. »Frei!« Sie musste lächeln, so gut tat es, hier oben zu stehen. Die ganze Weite der Welt breitete sich vor ihr aus. New York reichte wirklich bis zum Horizont.
    »Es soll Menschen geben«, sagte Jake, »die in ihrem ganzen Leben niemals das Ende der Stadt gesehen haben.«
    Scarlet schwieg. »Es ist wunderschön.«
    Tief unter ihnen rollte der Verkehr über die Brücke. Sechs Fahrspuren, Autos wie kleine Leiber, wuselnd und blinkend und hupend. Alles dort unten wirkte so unbedeutend, so winzig.
    Scarlet war es, als könne sie die Wolken mit den Fingerspitzen berühren, wenn sie sie nur danach ausstreckte. Sie schloss die Augen und lauschte dem Wind und den fernen Geräuschen der großen Stadt, in der sie gestrandet war.
    Etwas begann an ihrem Haar zu ziehen, erst zögerlich, dann mit einem Mal heftig.
    Eine Windböe fegte über den Brückenpfeiler und erfasste Scarlet. Sie spürte, wie der Wind an ihrem Flickenmantel zerrte. Sie strauchelte, wankte. Riss die Augen auf. Der Abgrund kam auf sie zu, und für einen kurzen Moment dachte sie, dass dies alles in ihrem Leben gewesen sein könnte. Sie würde stürzen und fallen, o ja, so weit in die Tiefe fallen, dass
alles, aber auch wirklich alles, was ihr etwas bedeutet hatte, unwichtig werden würde. Sie würde fallen, und dann wäre ihre eigene Geschichte beendet. Sie würde davon berichten, wie sie gestorben war. Da niemand wusste, wer sie war, würde niemand um sie trauern. In die eisigen Fluten würde sie eintauchen, und Meerwesen würden sie ins Licht geleiten oder sonstwohin. Es wäre vorbei, zu Ende.
    Doch sie fiel nicht.
    Jake war bei ihr.
    Er hielt sie fest.
    Seine Arme umfassten ihren Körper, und sie konnte seinen Atem auf ihrem Haar spüren.
    »Dort unten tanzen in den heißen Sommernächten die Nixen in den Fluten des East River, aber jetzt ist niemand da.« Das war alles, was er sagte. Sanft zog er sie in die Mitte des Pfeilers zurück. Keine einzige Sekunde lang ließ er sie los.
    »Ich hatte nicht die Absicht, ihnen Gesellschaft zu leisten«, antwortete Scarlet erschrocken und schnappte nach Luft.
    Jake löste die Umarmung nur langsam.
    »Danke«, hauchte Scarlet.
    Er nickte ihr zu. Lächelte leise. »Das sagst du oft.« Er sah verwegen aus, ein wenig hilflos, aber stark und als wäre er genau da, wo er gerade

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