Die Urth der Neuen Sonne
ein zweiter Fackelträger. Ein Arbeiter auf dem Heimweg blieb stehen und gaffte; ansonsten war niemand unterwegs.
Ich sah über die Schulter zurück, um den Offizier zu fragen, wohin er mich bringe.
»In den alten Hafen. Eins der abgetakelten Schiffe dort ist zum Kerker umgerüstet.«
»Und dann?«
Ich konnte ihn nicht sehen, mir aber sein Achselzucken lebhaft vorstellen. »Weiß nicht. Ich habe den Auftrag, dich festzunehmen und hier abzuliefern.«
Soweit ich sehen konnte, war ›hier‹ ein öffentlicher Park. Ehe das Dunkel der Bäume uns aufnahm, schaute ich hoch und gewahrte mich durchs frostwelke Laub.
Wieder in der Zitadelle
Ich hegte die Hoffnung, die Alte Sonne aufgehen zu sehen, ehe ich eingesperrt würde. Sie erfüllte sich nicht. Lange, lange kam es mir zumindest vor, erklommen wir. einen sanft ansteigenden Hang. Mehr als einmal setzten unsre Fackeln rot verfärbtes Laub über unsern Köpfen in Brand, das aufflammte und beißenden Rauch freisetzte, den Brodem des Herbstes, ehe es erlosch. Laub bedeckte auch den Pfad, den wir beschriften, aber es war regennaß.
Schließlich gelangten wir an eine finstre Mauer, die so hoch aufstrebte, daß unsere Fackeln sie nicht bis ganz oben auszuleuchten vermochten und ich sie zunächst schon für die Mauer von Nessus hielt. Ein Mann in Halbrüstung stand, auf den Schaft seiner Hellebarde gestützt, vor der dunklen, schmalen Wölbung einer Ausfallpforte. Als er uns sah, nahm er weder Haltung an, noch bezeigte er dem Offizier anderweitig Achtung. Als wir praktisch vor ihm standen, pochte er mit dem stahlbeschlagenen Schaft seiner Waffe gegen die Eisentür.
Die Tür wurde von innen geöffnet. Als wir durch die dicke Mauer – eine mächtige Mauer, die freilich längst nicht an die Mauer von Nessus heranreichte – schritten, hielt ich so jäh inne, daß der Offizier hinter mir gegen mich prallte. Der Wächter innen war mit einem zweischneidigen Schwert bewaffnet, dessen abgeplattete Spitze auf dem Steinpflaster ruhen durfte. »Wo bin ich?« wollte ich vom Offizier wissen.
»Wo ich dich, wie gesagt, hinbringen sollte«, antwortete er. »Dort liegt das abgetakelte Schiff.«
Ich schaute und sah einen mächtigen Turm ganz aus Metall.
Der Wächter plapperte: »Er fürchtet mein Schwert. Hat eine prima Schneide, Kamerad – wirst gar nichts spüren.«
Der Offizier fuhr ihn an: »Wirst du wohl Sieur zum Gefangenen sagen.«
»Solange du hier bist, Sieur, vielleicht.«
Was der Offizier daraufhin gesagt oder getan hätte, weiß ich nicht; während ihres Wortwechsels war eine Frau aus dem Turm gekommen, der ein Laufbursche mit einer Laterne folgte. Der Offizier begrüßte die Frau, deren kostbare Uniform sie als Vorgesetzte auswies, auf ganz lässige Weise und meinte: »Leidest an Schlaflosigkeit, wie ich sehe.«
»I wo! Du hast melden lassen, daß du kommst, und ich kenne dich als jemand, der sein Wort hält. Ich nehme neue Klienten gern persönlich in Augenschein. Dreh dich um, Kerl, und zeig dich mir.«
Ich kam der Aufforderung nach.
»Ein prächtiges Exemplar, und ihr habt ihn ganz heil gelassen. Hat er keine Gegenwehr geleistet?«
Der Offizier sagte: »Wir bringen dir hier ein unbeschriebenes Blatt.«
Als er mehr nicht dazu sagte, flüsterte einer der Fackelträger: »Hat gekämpft wie der Teufel, Madame Präfekt.« Der Offizier warf ihm einen Blick zu, der verriet, daß er für diese Bemerkung bezahlen müsse.
»Einen so frommen Klienten«, fuhr die Frau fort, »kann ich auch ohne deine Hilfe und die Hilfe deiner Männer in die Zelle führen, denke ich.«
»Wir sperren ihn gern ein, wenn du willst«, meinte der Offizier darauf.
»Wenn nicht, willst du jetzt sicher seine Eisen haben.«
Er hob die Schultern. »Ich habe sie gegen Unterschrift entnommen.«
»Dann nimm sie mit.« Sie wandte sich ihrem Burschen zu. »Sollte er zu fliehen versuchen, Reechy, dann gib mir die Laterne und fang ihn wieder ein.«
Der Offizier flüsterte mir ›Tu’s nicht‹ zu, während er die Handschellen löste, trat zurück und salutierte flüchtig. Der Mann mit dem Schwert schob grinsend die schmale Tür der Ausfallpforte auf, Offizier und Fackelträger gingen hintereinander hinaus, und die Tür fiel mit dumpfem Knall ins Schloß. Mir war, als hätte ich den letzten Freund verloren.
»Hier entlang, Hundertundzwei«, sagte die Frau und deutete auf die Tür, aus der sie gekommen war.
Ich hatte mich umgesehen – zunächst in der Hoffnung auf einen Fluchtweg, dann
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