Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Urth der Neuen Sonne

Die Urth der Neuen Sonne

Titel: Die Urth der Neuen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
gebannt wie ich und griff nicht ein.
    Langsam, unter unendlichem Schmerz und Kraftaufwand, hob Eskil die Flinte und schwenkte sie, bis die Mündung auf mich zeigte. Im düstern Sternenlicht sah ich seine steifen Finger zucken, zappeln und zucken.
    Wie du mir, so ich dir. Vorhin hätte ich meine Haut vielleicht gerettet, wenn ich nur die Sicherung gefunden hätte, um die Waffe abfeuern zu können. Er, der genauestens wußte, wo sie war und wie sie funktionierte, hätte mich getötet, hätte er nur die tauben Finger bewegen können, um zu entsichern. Gleichermaßen ohnmächtig starrten wir einander an. Schließlich konnte er die schwere Flinte nicht mehr halten. Klappernd fiel sie aufs Deck, und mir war, als wollte mir das Herz zerspringen vor Mitleid. In jenem Moment hätte ich selbst abgedrückt. Meine Lippen bewegten sich – aber ich merkte kaum, was ich sagte.
    Eskil setzte sich auf und starrte.
    Währenddessen verlangsamte unser Gefährt das Tempo. Das Deck senkte sich, bis es nahezu waagrecht war, und die Fontänen hinter uns verebbten wie die Welle, die sich am Strand bricht. Ich stand auf, um zu sehen, wo wir waren; Eskil stand gleichfalls auf, und bald gesellten sich der Freund, der ihn betreut hatte, und mein Wächter zu uns.
    Die Ufermauer des Gyoll erhob sich zu unsrer Linken und schnitt wie mit scharfer Schwertklinge den halben Nachthimmel ab. Wir glitten nahezu lautlos daran entlang, nachdem das Tosen des Antriebs, der uns dermaßen schnell dahingetragen hatte, verklungen war. Stufen führten zum Wasserspiegel, aber es standen keine freundlichen Helfer zum Festmachen bereit. Ein Seemann hüpfte vom Bug an Land und fing die zugeworfene Leine auf. Bald spannte sich ein Laufsteg vom Schiff zur Treppe.
    Der Offizier erschien, von fackeltragenden Füsilieren flankiert, im Heck. Er blieb stehen und machte große Augen, als er Eskil sah, woraufhin er alle drei Soldaten zu sich rief. Lange besprachen sie sich halblaut, so daß ich nichts hören konnte.
    Schließlich traten der Offizier und mein Wächter im Geleit der Fackelträger vor mich. Nach ein, zwei Atemzügen sagte der Offizier: »Zieht ihm das Hemd aus.«
    Eskil und sein Freund stellten sich neben mich. Eskil sagte: »Ihr müßt Euer Hemd ablegen, Sieur. Wenn nicht, müssen wir es vom Leib reißen.«
    »Würdest du das tun?« fragte ich ihn, um ihn zu prüfen.
    Er hob die Schulter, während ich den feinen Mantel öffnete, den ich von Tzadkiels Schiff mitgebracht hatte, und zu Boden gleiten ließ, um mir dann das Hemd über den Kopf zu streifen und auf den Mantel zu legen.
    Der Offizier trat näher, und ich mußte mich drehen, so daß er meinen Brustkorb von beiden Seiten in Augenschein nehmen konnte. »Solltest halbtot sein«, murmelte er. Und dann: »Es stimmt, was man von dir sagt.«
    »Da ich nicht weiß, was man von mir sagt, kann ich es weder leugnen noch bestätigen.«
    »Darum habe ich nicht gebeten. Zieh dich an, rate ich dir.«
    Ich sah mich nach Mantel und Hemd um, aber diese waren verschwunden.
    Der Offizier seufzte. »Geklaut. Einer von den Seeleuten schätzungsweise.« Er blickte zu Eskils Freund. »Du mußt gesehen haben, wer, Tanco.«
    »Ich habe in sein Gesicht geschaut, Sieur, nicht auf seine Kleider. Aber ich werde versuchen, sie zu finden.«
    Der Offizier nickte. »Nimm Eskil mit.« Auf ein Zeichen von ihm reichte einer der Fackelträger sein Licht an den nächsten weiter und bückte sich, um meine Fußfessel zu lösen.
    »Sie werden sie nicht finden«, unterrichtete der Offizier mich. »Es gibt tausend Verstecke auf einem Boot wie diesem, und die Besatzung kennt ein jedes davon.«
    Ich erwiderte, daß mir nicht kalt sei.
    Der Offizier nahm den Umhang ab, der zur Uniform gehörte. »Der Dieb wird sie zertrennen und in Stücken verkaufen, kann ich mir vorstellen. Sollte hübsch was verdienen. Nimm den – ich habe noch einen zweiten in der Kabine.«
    Es war mir nicht recht, sein Cape zu nehmen, aber es wäre töricht gewesen, eine solch großzügige Geste zurückzuweisen.
    »Ich muß dir die Hände fesseln. Vorschrift.« Die Handschellen blitzten wie Silber im Fackelschein; dennoch kniffen sie wie alle Fesseln.
    Nun überquerten wir vier den Laufsteg zur Ufertreppe, die wie neu wirkte, erklommen die Stufen und marschierten im Gänsemarsch ein Gäßchen hinauf, das von Gärten und meist eingeschossigen Häusern gesäumt wurde: voran ein Fackelträger, dahinter ich, dann der Offizier mit gezogener Pistole in der gesenkten Hand und zuletzt

Weitere Kostenlose Bücher