Die Urth der Neuen Sonne
man ein bißchen Geld hat. Ich habe mir Papier und Tinte bringen lassen und schreibe Briefe für die Wärter. Ein Freund hat mir außerdem ein paar meiner Bücher gebracht; ich werde noch ein berühmter Gelehrter, wenn ich länger hierbleiben sollte.«
Da ich stets danach gefragt hatte, als ich die Kerker und Verließe der Republik abklapperte, fragte ich auch jetzt nach dem Grund der Haft.
Er schwieg vorerst. Ich hatte die Luke wieder geöffnet, aber trotz der frischen Luft, die hereinzog, roch ich noch den Fäkalientopf unterm Bett, wie es überhaupt nach allem möglichen hier stank. Der Wind trug den Ruf von Saatkrähen und das Stampfen von Stiefeln auf Metall heran.
Schließlich erklärte er: »So was fragt man nicht hier, es geht keinen was an.«
»Tut mir leid, wenn ich dich gekränkt habe, aber du hast mich auch so was gefragt. Du hast gefragt, ob ich ein Theurg bin, und ich bin eingesperrt worden als Theurg.«
Wieder folgte eine lange Pause.
»Ich habe so einen Idioten von Kaufmann getötet. Er schlief hinter seinem Ladentisch, ich stieß einen messingnen Kerzenhalter um, und hoch fuhr er, brüllend und schwertschwenkend. Was blieb mir anderes übrig? Man hat doch wohl das Recht, das eigene Leben zu verteidigen, oder?«
»Nicht unter allen Umständen«, sagte ich. Ich hatte gar nicht gewußt, daß dieser Gedanke in mir steckte.
An jenem Abend brachte der Junge mein Essen und außerdem Herena, Declan, den Maat und die Köchin, die ich kurz zuvor im Gasthaus zu Saltus gesehen hatte.
»Ich habe es geschafft, sie hereinzubringen, Sieur«, sagte der Junge und warf die schwarze Mähne zurück wie ein ausgewachsener Höfling. »Der Wärter schuldet mir ein paar Gefälligkeiten.«
Da Herena weinte, schob ich den Arm durchs Gitter und streichelte ihr die Schulter. »Ihr seid alle in Gefahr«, sagte ich ihnen. »Ihr könnt verhaftet werden meinetwegen. Bleibt also nicht lange.«
Der Maat meinte: »Sollen sie nur kommen, die knackarschigen Soldatenknäblein. Sie werden schon merken, daß ich keine Jungfrau bin.«
Declan nickte und räusperte sich, und ich stellte staunend fest, daß er ihr Anführer war. »Sieur«, begann er mit seiner tiefen, schleppenden Stimme: »In Gefahr seid Ihr. Hier schlachten sie Menschen wie wir daheim die Säue.«
»Schlimmer noch«, warf der Junge ein.
»Wir wollen in Eurer Sache mit dem Magistrat sprechen, Sieur. Haben dort den ganzen Nachmittag gewartet, aber sind nicht vorgelassen worden. Arme Leute müssen tagelang warten, heißt es, bis er sie empfängt; aber wir werden warten, solange es dauert. Mittlerweile tun wir, was wir sonst noch tun können.«
Die Köchin der Alcyone sah ihn vielsagend an, was ich nicht durchschaute.
Herena sagte: »Aber nun möchten wir, daß Ihr uns allen von der Ankunft der Neuen Sonne erzählt. Ich habe schon mehr gehört als die andern und versucht, ihnen zu sagen, was Ihr mir gesagt habt, aber das ist viel nicht gewesen. Dürfen wir nun alles hören?«
»Ich weiß nicht, ob ich es euch verständlich machen kann«, entgegnete ich. »Ich weiß nicht einmal, ob ich es selber verstehe.«
»Bitte!« flehte die Köchin, und das war das einzige Wort, das ich je von ihr hörte.
»Also gut. Ihr wißt, was mit der Alten Sonne geschieht: sie stirbt. Damit will ich nicht sagen, daß sie jäh erlöschen wird wie eine Lampe um Mitternacht. Es dauert sehr lange. Der Docht – wenn ich so sagen darf – ist nur um Haaresbreite gekürzt, dennoch fault das Getreide auf den Feldern. Ihr wißt zwar nichts davon, aber das Eis im Süden gewinnt neue Kraft. Zum Eis von zehn Jahrtausenden kommt nun das Eis des Winters, der vor der Tür steht, und dieses Doppel wird sich die Hand reichen wie Brüder und vereint seinen Marsch gen Norden antreten. Der große Erebus, der dort sein Reich errichtet hat, wird davor fliehen müssen mit all seinen grimmigen, bleichen Kriegern. Er wird sich mit Abaia zusammentun, der in den warmen Gewässern herrscht. Mit andern, die weniger stark, aber nicht minder listig sind, werden sie sich den Herrschern der Länder jenseits der Mitte der Urth unterwerfen, die ihr Ascien nennt; sind sie erst einmal mit diesen vereint, werden sie sie völlig verschlingen.«
Aber es wäre viel zu lang, wollte ich hier Wort für Wort niederschreiben, was ich ihnen sagte. Ich erzählte ihnen alles, was ich wußte, vom Sterben der Alten Sonne und den Folgen für die Urth, und versprach ihnen, daß wenigstens einer käme und eine Neue Sonne brächte.
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