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Die Urth der Neuen Sonne

Die Urth der Neuen Sonne

Titel: Die Urth der Neuen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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wo er Pfeil und Bogen aus dem Bündel zog, den Bogen spannte und einen Pfeil zu uns schoß, der an einer langen silbernen Schnur hing, die nicht viel stärker als ein Bindfaden war.
    Der Pfeil glitt zwischen Gunnie und mir hindurch, während ich verzweifelt versuchte, die Leine zu fassen. Gunnie freilich hatte mehr Glück und erwischte sie, und als sie von dem stämmigen Matrosen herangeholt wurde zum Schiff, schwang sie die Leine, wie ein Kutscher die Peitsche knallt, so daß sie in einer langen Welle, als wäre sie lebendig geworden, zu mir heranschnellte, woraufhin ich sie greifen konnte.
    Ich hatte das Schiff nicht gemocht, als ich sein Passagier war und schließlich seiner Besatzung angehörte, aber nun stimmte mich der bloße Gedanke, es habe mich gleich wieder, froh. Es war mir, als ich zum Mast gezogen wurde, durchaus bewußt, daß meine Aufgabe längst nicht erfüllt sei, daß die Neue Sonne erst komme, wenn ich sie brächte, und daß ich, indem ich sie brächte, verantwortlich wäre für die Zerstörung, die sie neben der Erneuerung der Urth auslösen würde. So muß sich jeder gemeine Mann, der einen Sohn zur Welt bringt, verantwortlich fühlen für die Wehen seines Weibes und vielleicht gar für den Tod der Wöchnerin und nicht ohne Grund fürchten, daß die Welt ihn zuletzt aus Millionen Zungen verurteilte.
    Trotz dieser Einsicht bildete ich mir ein, daß es nicht so war: daß ich, der ich mir sehnlichst gewünscht hatte zu bestehen und nichts unversucht gelassen hatte, um zu gewinnen, gescheitert sei und daß ich nun den Phönix-Thron wieder für mich beanspruchen dürfe, wie ich es in Gestalt meines Vorgängers getan hatte, um die Macht auszukosten und das Wohlleben zu genießen – insbesondere aber mit Genugtuung gerechte Strafen zu verhängen und verdienten Lohn zu gewähren, was die ergötzlichste Wonne von Macht ist. Und obendrein endlich frei zu sein vom unstillbaren Drang zum Weibe, der mir und ihnen so viel Leid bereitet hat.
    So hüpfte mir das Herz vor Freude, als ich zu dem titanischen Wald aus Masten und Spieren abstieg, den Kontinenten aus silbernen Segeln, wie ein gestrandeter Seemann dank helfender Hände aus dem Meer auf blühendes Land gekrochen wäre, und als ich endlich bei Gunnie auf der Spiere stand, umarmte ich den Seemann, als wäre er Roche oder Drotte gewesen, und setzte sicherlich ein albernes Grinsen auf und hüpfte mit ihm und seinen Kameraden von Fall zu Stag, wobei ich nicht mehr Vorsicht walten ließ als sie und das Hochgefühl weniger im Herzen, sondern in den Armen und Beinen zu spüren glaubte.
    Erst als mich ein letzter Satz aufs Deck trug, merkte ich, daß solche Gedanken keine bloßen Metaphern waren. Mein verkrüppeltes Bein, das ungemein geschmerzt hatte nach dem Abstieg vom Mast, auf dem ich die bleierne Schatulle mit der Geschichte meines bisherigen Lebens abgeworfen hatte, tat nun überhaupt nicht weh, sondern erschien mir so stark und heil wie das andere. Ich betastete Knie und Oberschenkel (so daß Gunnie und die Matrosen, die sich um uns gesammelt hatten, glaubten, ich hätte mir das Bein verletzt) und spürte, daß der Muskel ebenso dick und straff ausgeprägt war wie am andern Bein.
    Nun hüpfte ich vor Freude und tat dabei einen mächtigen Satz, so daß ich die andern auf dem Deck weit unter mir ließ, und überschlug mich dabei ein Dutzend Mal, wie ein Spieler eine Münze wirft. Ernüchtert indes landete ich wieder auf dem Deck, denn beim Drehen hatte ich einen Stern gesehen, der alle andern an Helligkeit übertraf.
     

 
Der Kapitän
     
    Bald wurden wir nach unten gebracht. Darüber war ich froh, ehrlich gesagt. Es ist schwer zu erklären – weshalb ich am liebsten darüber hinwegginge. Dabei wäre es ganz einfach, wenn du, Leser, noch einmal ganz jung wärst.
    Ein Säugling in seiner Krippe weiß seinen Leib zunächst nicht vom Holz, das ihn umgibt, oder von den Lumpen, auf die er gebettet ist, zu unterscheiden. Oder anders ausgedrückt, sein Leib ist ihm so fremd wie alles andere. Er entdeckt einen Fuß und staunt über den so wunderlichen Körperteil.
    Ebenso erging es mir. Ich hatte den Stern gesehen und als Teil von mir erkannt, obwohl er unendlich fern war – absurd wie das Kinderfüßchen und geheimnisvoll wie das Genie, das einer gerade in sich entdeckt hat. Ich will nicht sagen, daß dem Stern mein Bewußtsein, irgendein Bewußtsein innewohnte; das war zu der Zeit zumindest nicht der Fall. Dennoch war ich mir zweier Existenzen bewußt, wie

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