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Die Urth der Neuen Sonne

Die Urth der Neuen Sonne

Titel: Die Urth der Neuen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Moment lang maßen wir unsre Kräfte.
    Während wir gingen, hatte unser Schreiten einen festen Takt angenommen, zu dem sich nun Musik gesellte, die weder von Trompeten noch von Ophikleiden oder sonstigen bekannten Blasinstrumenten stammte. Nach unserm Händedruck schwoll die wunderliche Musik zu einem Crescendo, das unsichtbare goldene Kehlen ringsum anstimmten.
    Im nächsten Moment wurde alles still. Unverhofft wie der Schatten eines Vogels erschien die geflügelte Gestalt einer Riesin, die hoch wie die grünen Pinien der Nekropolis aufragte.
    Alle Hierodulen verbeugten sich sogleich, und im nächsten Moment folgten Gunnie und ich ihrem Beispiel. Die Matrosen in unserer Begleitung huldigten gleichfalls, indem sie die Mützen zogen, das Knie beugten und das Haupt senkten; manche verbeugten sich schlicht, was steifer, aber noch unterwürfiger ausfiel.
    Wenn Grimkelds Philosophie gegen Angst feite, so bewahrte mich mein Gedächtnis davor. Tzadkiel war, daran glaubte ich fest, der Kapitän des Schiffes gewesen auf der bisherigen Fahrt; Tzadkiel, daran glaubte ich fest, war auch jetzt der Kapitän; und auf Yesod hatte ich erfahren, daß ich sie nicht zu fürchten brauchte. Nun aber schaute ich Tzadkiel in die Augen und sah die Augen, welche die Flügel schmückten, und wußte, daß ich irrte.
    »Da ist jemand Großes unter euch«, sagte sie, und ihre Stimme klang wie das Spiel von hundert Leiern oder das Schnurren des Smilodons, der Raubkatze, die unsre Bullen reißt, wie Wölfe Schafe reißen. »Trete er vor.«
    Es war schwer wie kaum was anderes, das ich in meinen vielen Leben getan hatte, aber ich folgte ihrer Aufforderung und trat vor. Sie hob mich auf, wie eine Frau ein Hündchen aufhebt, und hielt mich in den gewölbten Händen. Ihr Atem war der Wind von Yesod, den ich nie wieder zu spüren geglaubt hatte.
    »Woher kommt soviel Macht?« Es war nur gehaucht, dennoch glaubte ich, daß ein solcher Hauch das ganze Schiff erbeben ließe.
    »Von dir, Tzadkiel«, sagte ich. »Ich bin dein Sklave gewesen in einer andern Zeit.«
    »Erzähl.«
    Als ich zu erzählen anfing, barg, was mir ein Rätsel blieb, jedes meiner Wörter den Sinngehalt von zehntausenden, so daß, als ich Urth sagte, die Kontinente damit einhergingen und das Meer mit allen Inseln darauf und der blaue Himmel, der unter der alten Sonne erstrahlte, die inmitten ihres Sternkreises regierte. Nach hundert Wörtern dieser Art wußte sie mehr über unsre Geschichte, als ich zu wissen geglaubt hatte. Schließlich gelangte ich zur Stelle, als ich Vater Inire umarmt und das Schiff der Hierodulen bestiegen hatte, das mich zu diesem Schiff bringen sollte, dem Schiff des Hierogrammaten, Tzadkiels Schiff, obgleich ich davon nichts wußte. Nach weiteren hundert Wörtern war alles, was mir auf dem Schiff und in Yesod widerfuhr, glitzernd in der Luft zwischen uns auferstanden.
    »Du hast dich Prüfungen unterzogen«, sagte sie. »Wenn du willst, kann ich dir etwas geben, das dich alle Prüfungen vergessen läßt. Wenngleich nur durch Instinkt, wirst du deiner Welt dennoch eine junge Sonne bringen.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich will nicht vergessen, Tzadkiel. Ich habe mich zu oft gerühmt dafür, nichts zu vergessen, und das Vergessen – das ich ein, zwei Mal selbst erfahren habe – scheint mir eine Art Tod.«
    »Sag lieber, Tod ist Erinnern. Aber auch der Tod kann eine Gnade sein, wie du auf dem See erfahren hast. Möchtest du, daß ich dich absetze?«
    »Wie gesagt, ich bin dein Sklave. Dein Wunsch ist mir Befehl.«
    »Und wenn es mein Wunsch wäre, dich fallen zu lassen?«
    »Dann würde dein Sklave versuchen, dennoch zu leben, damit auch die Urth lebe.«
    Sie lächelte und öffnete die Hand. »Du hast schon wieder vergessen, wie harmlos es ist, wenn man hier fällt.«
    Ich hatte es wirklich vergessen und war momentan zu Tode erschrocken; aber ein Sturz aus dem Bett auf Urth wäre schlimmer gewesen. Leicht wie Distelwolle setzte ich auf dem Boden von Tzadkiels Quartier auf.
    Trotz alledem dauerte es eine Weile, bis ich mich faßte und schließlich merkte, daß die andern verschwunden waren und ich allein hier stand. Tzadkiel, der wohl nicht entging, daß ich mich umsah, hauchte: »Ich habe sie weggeschickt. Der Mann, der dich gerettet hat, wird belohnt – ebenso wie die Frau, die an deiner Seite gekämpft hat, während die andern dich erschlagen hätten. Aber es ist unwahrscheinlich, daß du sie wiedersehen wirst.«
    Sie schob die rechte Hand zu mir, bis die

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