Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Urth der Neuen Sonne

Die Urth der Neuen Sonne

Titel: Die Urth der Neuen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
Kinderärmchen war.
    »Warum hast du uns nachspioniert, Herena?«
    Sie sagte etwas, aber ich konnte sie nicht hören.
    »Sie hat nicht spioniert«, entgegnete ihr Vater. »Sie hat Nüsse gesammelt. Sie ist ein braves Mädchen.«
    Manchmal, wenngleich es nicht oft geschieht, sieht man etwas, das man schon etliche Male gesehen hat, und sieht es in neuem Licht. Wenn ich, die trotzige Thecla, meine Staffelei neben einem Wasserfall aufbaute, forderte mich mein Lehrer stets auf, ihn mit neuen Augen zu sehen; ich verstand nie, was er meinte, und gelangte rasch zur Überzeugung, daß sein Ausspruch nichts zu bedeuten hätte. Nun sah ich Herenas verkrüppelten Arm nicht als permanente Mißbildung (wie ich dergleichen bislang betrachtet hatte), sondern als Fehler, der sich mit wenigen Pinselstrichen korrigieren ließe.
    Burgundofara begann: »Es muß schwer sein …« Als sie merkte, daß sie Anstoß erregen könnte, schloß sie: »So früh unterwegs zu sein.«
    Ich sagte: »Ich mache den Arm deiner Tochter ganz, wenn du willst.«
    Der Hetman sperrte den Mund auf, brachte keinen Ton hervor und schloß ihn wieder. Seine Miene blieb die alte, aber sie verriet nur Furcht.
    »Willst du?« fragte ich.
    »Ja, ja, natürlich.«
    Seine Augen und das unsichtbare Starren aller Dorfbewohner verunsicherte mich. Ich sagte: »Sie muß mitkommen. Wir gehen nicht weit, und es dauert nicht lange.«
    Er nickte bedächtig. »Herena, du mußt mit dem Sieur gehen.« (Mir fiel plötzlich auf, wie vornehm ich in den Kleidern, die ich aus dem Prunkgemach mitgenommen hatte, wirken mußte auf diese Leute.) »Folg schön und beherzige die Ermahnungen deiner Eltern …« Er wandte sich ab.
    Sie ging vor mir her den Weg zurück, bis das Dorf nicht mehr zu sehen war. Der Ansatz des verkrüppelten Arms war durch einen zerrissenen Kittel verdeckt. Ich hieß sie, diesen auszuziehen; sie zog ihn über den Kopf aus.
    Ich gewahrte das rotgoldene Laub, ihre rosigbraune Haut, als betrachtete ich durch einen Spalt die schillernden Farben eines Mikrokosmos. Vogelgesang und Wasserrauschen waren so fern und fein wie das Klimpern eines Orchestrions im tiefen Hof.
    Ich berührte Herenas Schulter, und die Realität wurde zu form- und glättbarem Ton. Mit ein, zwei Streichbewegungen modulierte ich einen neuen Arm, das Spiegelbild des andern. Eine Träne, die mir dabei auf die Finger perlte, war so heiß, daß sie mich nahezu verbrannte. Das Mädchen bebte.
    »Ich bin fertig«, sagte ich. »Zieh den Kittel an.« Wieder war ich im Mikrokosmos, der mir abermals als Wirklichkeit erschien.
    Sie drehte mir das Gesicht zu und lächelte, obwohl ihr Tränen über die Wangen strömten. »Ich liebe Euch, Herr«, sagte sie, kniete nieder und küßte mir die Stiefelspitze.
    »Darf ich deine Hände sehen?« fragte ich. Ich konnte selber nicht mehr glauben, was ich getan hatte.
    Sie hielt sie mir hin. »Jetzt werden sie mich als Sklavin verschleppen. Ist einerlei. Nein, werden sie nicht – ich verstecke mich in den Bergen.«
    Ich betrachtete ihre Hände, die ohne Fehl waren, auch als ich sie zusammendrückte. Es ist selten, daß jemand vollkommen identische Hände hat, da die häufiger gebrauchte Hand stets größer ist. Ihre Hände hingegen glichen sich wie ein Ei dem andern. Ich fragte: »Wer verschleppt dich, Herena? Wird dein Dorf von Cultellarii heimgesucht?«
    »Die Steuereinnehmer natürlich.«
    »Nur weil du jetzt zwei gesunde Arme hast?«
    »Weil ich jetzt ohne Makel bin.« Sie hielt, von einer neuen Ahnung beschlichen, inne und riß die Augen auf. »Das bin ich doch, oder?« Es war keine Zeit zum Philosophieren. »Du bist ohne Makel – eine besonders hübsche junge Dame.«
    »Dann holen sie mich. Fehlt Euch etwas?«
    »Nein, bin nur ein bißchen schwach. Wird gleich wieder.« Ich wischte mir mit dem Mantelsaum den Schweiß von der Stirn, genau wie ich es als Folterer getan hatte. »Ihr seht nicht so aus.«
    »Es waren wohl mehr die Energien der Urth, die deinen Arm heilten. Aber sie flossen durch mich. Und nahmen zum Teil wohl Energie von mir mit.«
    »Ihr kennt meinen Namen, Herr. Wie heißt Ihr?«
    »Severian.«
    »Ich gebe Euch zu essen in meines Vaters Haus, Herr. Es ist noch etwas da.« Ein Windstoß fuhr heran und wirbelte uns das bunte Laub ins Gesicht, als wir zurückgingen.
     

 
Bei den Dorfbewohnern
     
    Mein Leben hat mir viel Kummer und Freude beschert, aber wenige Wonnen jenseits des simplen Genusses von Liebe und Schlaf, frischer Luft und gutem Essen, wie

Weitere Kostenlose Bücher