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Die Urth der Neuen Sonne

Die Urth der Neuen Sonne

Titel: Die Urth der Neuen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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eine Blume erblühte. Mein Herz war ein kraftvoller Motor, der ewig liefe und die Welt mit jedem Schlag erbeben ließe. Nie fühlte ich mich lebendiger als damals, als ich Leben einflößte.
    Und ich sah es, wir alle sahen es. Seine Augen waren nicht mehr totenstarr, sondern lebende Organe, mittels derer ein Mensch uns wahrnahm. Das kalte Blut des Todes, das bittere Gerinnsel, das an der Schlachtbank klebt, wallte wieder auf und strömte aus der Wunde, die Burgundofara ihm beigebracht hatte. Diese schloß sich und verheilte im Nu, so daß nur ein roter Fleck auf dem Boden und ein heller Strich auf der Haut zurückblieben. Blut stieg ihm in die Wangen und nahm ihm das fahle Aussehen; bald war er braun und rosig.
    Eben hätte ich noch behauptet, der Tote sei ein Mann mittleren Alters gewesen; der Jüngling, der nun blinzelnd vor mir stand, war keine zwanzig. An Miles erinnert, legte ich ihm den Arm um die Schultern und hieß ihn wieder willkommen im Reich der Lebenden, wobei ich sachte und langsam sprach wie zu einem Hund.
    Hadelin und die andern, die uns zu Hilfe geeilt waren, wichen mit entsetzter Miene zurück. Wie seltsam, so überlegte ich (und so meine ich noch jetzt), daß sie sich dem Monstrum so kühn entgegenstellten, aber vor der Korrektur des Schicksals so feige zurückschraken.
    Vielleicht tun wir uns mit Mut nur hervor, wenn wir mit dem Bösen ringen. Ich für meine Person verstand nun, was mich seit der Kindheit beschäftigt hatte: die Legende, daß in der letzten Schlacht ganze Armeen von Dämonen beim bloßen Anblick eines Kriegers des Increatus flöhen.
    Kapitän Hadelin war als letzter aus der Tür. Er hielt, den Mund weit aufgesperrt, inne und versuchte allen Mut zusammenzunehmen, weil er etwas sagen wollte, oder suchte lediglich nach Worten, um dann auf dem Absatz kehrt zu machen und zu türmen, so daß wir allein zurückblieben im Dunkeln.
    »Da ist irgendwo eine Kerze«, murmelte Burgundofara. Ich hörte sie danach suchen.
    Sodann sah ich auch sie; in ein Leintuch gewickelt, beugte sie sich über ein Tischchen, das neben dem zusammengekrachten Bett stand. Das Licht, das in der Hütte des Kranken erschienen war, war zurückgekehrt, und als Burgundofara den Schatten, den sie warf, schwarz vor sich liegen sah, drehte sie sich um, bemerkte es und rannte kreischend hinter den andern her.
    Es war wohl zwecklos, ihr nachzulaufen. Ich versperrte die Tür notdürftig mit Stühlen und den Resten des Türblatts und zog im Schein des Lichtes, das leuchtete, wohin ich blickte, die zerschlitzte Matratze auf den Boden, damit der Mann, der tot gewesen war, und ich, uns hinlegen könnten.
    Ich sagte ›hinlegen‹, denn an Schlaf hatte wohl keiner von uns beiden gedacht, obschon ich ein, zwei Mal einnickte, um dann geweckt zu werden von seinen Runden, die er im Zimmer drehte und die sich nicht auf unsere vier Wände beschränkten. Drückte ich die Augen zu, so öffneten sie sich, wie mir schien, und starrten zu meinem Stern, der über der Decke erstrahlte. Die Decke war durchsichtig wie Flor, und ich konnte meinen Stern sehen, der auf uns zuschoß, jedoch unendlich fern war. Schließlich stand ich auf und öffnete die Läden und beugte mich aus dem Fenster, um den Himmel zu betrachten.
    Es war eine klare Nacht; und eine kalte. Jeder Stern am Himmelszelt funkelte wie ein Juwel. Ich glaubte zu wissen, wo mein Stern stand, genau wie die Graugans niemals ihren Landeplatz verfehlt, gleichwohl wir ihren Ruf durch Meilen von Nebel hören. Vielmehr wußte ich, wo mein Stern stehen sollte. Als ich freilich hinschaute, sah ich nur endlose Nacht. Der übrige Himmel war so reich mit Sternen bestückt wie ein Fürstenmantel mit Diamanten. Und vielleicht gehörte ein jeder Stern einem törichten, ebenso verunsicherten und perplexen Abgesandten wie mir. Dennoch war der meine nicht darunter. Der meinige war wohl da (irgendwo), aber nicht sichtbar.
    Wenn man wie ich eine solche Chronik verfaßt, so ist man stets bestrebt, zeitliche Abfolgen zu beschreiben; manche Ereignisse indes entbehren eine solche Abfolge, wenn alles gleichzeitig geschieht: es existiert nicht, dann ist es mit einemmal da. So auch jetzt. Man stelle sich einen Mann vor, der vor einem Spiegel steht; ein Stein fliegt daher, und schon geht der Spiegel in Scherben.
    Und der Mann merkt, wer er ist, merkt, daß er nicht der Mann im Spiegel ist, für den er sich gehalten hat.
    Ebenso erging es mir. Ich erkannte mich als den Stern, als Leuchtfeuer inmitten der Nacht an

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