Die Urth der Neuen Sonne
der Grenze zwischen Yesod und Briah. Dann war diese Gewißheit weg und ich bloß mehr der Mensch, der schweißgebadet und fröstelnd und zitternd am Fenster stand und den Mann, der tot gewesen war, durchs Zimmer gehen hörte.
Dunkelheit lag über dem Städtchen Os, nachdem sich Luna hinter die schwarzen Berge jenseits des schwarzen Gyoll zurückgezogen hatte.
Ich blickte zu der Stelle, wo Ceryx mit seinem Publikum gestanden hatte, und glaubte, im spärlichen Licht noch ihre Spuren ausmachen zu können. Von einer Regung geleitet, die ich nicht zu erklären vermochte, trat ich ins Zimmer, kleidete mich an, schwang mich hinaus und sprang hinunter auf die aufgeweichte Straße.
Die Landung war so hart, daß ich im ersten Moment fürchtete, mir den Knöchel gebrochen zu haben. Auf dem Schiff war ich leicht wie Lanugo gewesen, und mein neues Bein hatte mir vielleicht mehr Zuversicht eingeflößt, als es einlösen konnte. Nun wußte ich, daß ich auf Urth von neuem springen lernen mußte.
Wolken hatten mittlerweile die Sterne verschleiert, so daß ich tastend danach suchen mußte, was ich von oben gesehen hatte; aber wie sich zeigte, hatte ich mich nicht getäuscht. Ein Messingkerzenhalter wies die geschmolzenen Wachsreste einer Kerze auf, die mit Bienen nichts gemein hatte. Ein totes Kätzchen und ein toter Vogel lagen nebeneinander im Rinnstein.
Während ich diese näher betrachtete, sprang der Mann, der tot gewesen war, neben mir auf die Straße, wobei er geschmeidiger als ich landete. Ich sprach ihn an, aber er gab keine Antwort; ich machte ein Experiment und ging ein Stück weit die Straße hinunter. Er folgte mir fügsamst. Mir war mittlerweile nicht mehr nach Schlafen zumute, und die Müdigkeit, die über mich gekommen war, nachdem ich ihm Leben einflößte, wurde überdeckt von einem Gefühl, das ich nicht als Unwirklichkeit beschreiben möchte: die erhebende Gewißheit, nicht mehr in einer Marionette aus Fleisch und Blut zu wohnen, die Severian genannt wurde, sondern in einem fernen Stern, der genügend Energie barg, um Abertausende von Welten erblühen zu lassen. Als ich den Mann, der tot gewesen war, betrachtete, fiel mir ein, wie weit Miles und ich gegangen waren, obwohl keiner von uns einen Schritt hätte tun sollen, und wußte, daß nun alles anders war.
»Komm«, sagte ich, »sehen wir uns die Stadt an, und ich spendier dir ein Glas, sobald die erste Schnapsbude aufmacht.«
Er gab keine Antwort. Als ich ihn an eine Stelle mit Sternenlicht führte, war sein Gesicht das entrückte Gesicht eines Schlafwandlers.
Wollte ich unsre Wanderung in aller Ausführlichkeit beschreiben, so würde ich dich, Leser, nur langweilen; langweilig war es für mich indes nicht. Wir gingen auf den Hügeln nach Norden, bis uns die Stadtmauer den Weg versperrte, ein baufälliges Werk, das wohl nicht nur aus Angst, sondern auch aus Stolz errichtet worden war. Wir kehrten um und stiegen hinunter durch trauliche, verwinkelte Gäßchen, die von Fachwerkhäusern gesäumt waren, um ans Flußufer zu gelangen, als eben das erste Licht des jungen Tages über die Dächer hinter uns lugte.
Als wir entlangspazierten und die Mehrmaster bestaunten, wurden wir von einem alten Mann aufgehalten, einem Frühaufsteher, der (wie so viele Alten) einen leichten Schlaf hatte.
»He, Zama!« rief er. »Zama, Junge, die haben gesagt, du wärst gestorben.«
Ich lachte, und als der Mann, der tot gewesen war, mein Lachen hörte, lächelte er.
Der Greis kicherte. »Tja, hast nie besser ausgesehen!«
Ich fragte: »Wie soll er gestorben sein?«
»Ertrunken! Pinians Schiff ist bei der Insel Baiulo gesunken, soweit ich gehört habe.«
»Hat er eine Frau?« Als ich den verwunderten Ausdruck des Alten sah, merkte ich an: »Ich habe ihn erst gestern abend kennengelernt beim Zechen und möchte ihn irgendwo abliefern. Er hat, fürcht ich, mehr gekippt, als er vertragen kann.«
»Hat keine Familie. Wohnt bei Pinian. Pinians Alte zieht es ihm vom Lohn ab.« Er erklärte mir den Weg und woran das Haus zu erkennen sei, was recht erbärmlich klang. »Würd ihn freilich nicht so bald hinbringen, solange er Schlagseite hat. Pinian wird ihn windelweich schlagen, bestimmt.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »He, alle sagen, sie haben Zama tot herausgefischt und die Leiche heimgebracht!«
Da ich nicht wußte, was ich sonst sagen sollte, meinte ich darauf: »Man weiß nie, was man glauben darf.« Gerührt von seiner Freude darüber, einen totgeglaubten starken
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