Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vagabundin

Die Vagabundin

Titel: Die Vagabundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
Vom Netzwerk:
vertreten und herauszufinden, wo sie sich überhaupt befand. Bis auf die paar Schritte hinüber zur Latrine hatte sie hier nämlich noch keinen Fuß auf die Erde gesetzt, und sie war fest entschlossen, am nächsten Tag, nach einer hoffentlich ruhigen Nacht und einem stärkenden Morgenessen, das Siechenhaus auf immer zu verlassen. Dieses hässliche Kratzen im Hals würde bis dahin hoffentlich vorübergehen.
    Eva hielt sich am Bettrand fest und blickte sich um. In zwei Reihen waren die Betten aufgestellt und bis auf das von Eva allesamt zweifach belegt. Mit den Fußenden voraus säumten sie rechts und links einen breiten Durchgang, an dessen hinterem Ende ein hölzernes Podest für die Krankenwache errichtet war. Jetzt, zur Mittagszeit, war die Bank darauf leer. Keine gute Zeit also, um zu sterben, fuhr es Eva durch den Kopf. Ihr Blick ging in die andere Richtung, vorbei an den beiden offenen Kaminen zur Eingangstür, über der ein schwarzgebeiztes Kruzifix hing. Der ganze Siechensaal erinnerte an eine schmucklose lutherische Dorfkirche, mit seiner hohen Decke, den weißgetünchten Wänden und den hoch angesetzten Fenstern, die keinen Blick nach draußen erlaubten.
    Ihr schwindelte plötzlich, als sie sich bückte und unter das Bettgestell sah. In einer Art offenen Kiste lagen ihr Wams, ihr Umhang, ihre Pluderhose samt Strumpfhose und Schuhe –alles ordentlich gefaltet, dafür von ihrem Werkzeug und ihrer Geldkatze keine Spur! Man hatte sie bestohlen! Irgendwer in diesem stinkenden Schelmenspital hatte sie beklaut, irgendwer von diesen halbtoten, zerlumpten Gestalten rundum! Oder gar einer von den Knechten oder Mägden hier. Sie musste sofort die Barreiterin aufsuchen.
    Vorsichtig richtete sie sich wieder auf und wartete, bis die Funken vor ihren Augen zu tanzen aufgehört hatten. Dann tappte sie barfuß über den eiskalten Steinboden zur Tür, öffnete mit Mühe einen schmalen Spalt und schlüpfte hinaus, in eine große, zugige Vorhalle. Von hier aus führte eine Holztreppe in die oberen Stockwerke. Dort musste der Schlafsaal der armen Leut sein, jener bedürftigen Seelen, die kein Dach über dem Kopf und kein Brot im Säckel hatten und für eine Nacht hier Kost und Unterkunft gewährt bekamen. Jetzt allerdings war es totenstill dort oben.
    Entschlossen trat Eva an das zweiflügelige Eingangsportal und drückte die schwere Klinke nach unten. Nichts! Sie rüttelte mit beiden Händen daran, zerrte und drückte, aber vergeblich. Die Tür war verriegelt und verschlossen! Man hatte sie also eingesperrt wie die Malefikanten im Turm! Nicht einen Tag länger, schwor sie sich, würde sie hier im Spital bleiben, nicht einen Tag! Sie musste nur noch herausfinden, wo ihre Sachen geblieben waren, und dann – nichts wie weg aus Regensburg. Wenn nur die Barreiterin endlich käme! Es war so bitterkalt hier in der Zugluft, barfuß, wie sie war, und nur im dünnen, knielangen Leinenhemd.
    Da entdeckte sie eine Luke im linken Türflügel. Wenigstens sie ließ sich öffnen. Doch als sie den Kopf hinausstreckte, blieb ihr fast der Atem stehen: Unter ihr, zu Füßen des Altans mit seiner ausladenden Steintreppe, lag die ganze Welt in frostiger Kälte erstarrt! Weißer Raureif umschlang das kahle Geäst derKastanien, hatte sich auf die Dächer und Mauern rundum gelegt und das Holz des mächtigen Mühlrads zu ihrer Linken und selbst das bucklige Kopfsteinpflaster zwischen Siechenhaus und Wehrmauer überzuckert. Der Mühlbach, der hier unter dem Siechenhaus verschwand, war zu Eis erstarrt, alles schimmerte weiß, sogar der milchig trübe Himmel. Es bestand kein Zweifel: Der Winter war eingebrochen. Ob der Donaustrom auch gefroren war?
    Mit ihren vor Kälte gefühllosen Fingern schaffte sie es nicht, die Luke wieder zu schließen, ja nicht einmal, die Tür zum Siechensaal aufzustoßen. Kraftlos sank sie zu Boden, ihre Zähne klapperten ohne Unterlass und ließen es nicht zu, dass sie um Hilfe rief. Vergeblich versuchte sie sich aufzurappeln, doch ihre Muskeln wurden nach und nach taub, wie tot hingen die Glieder an ihr, und um ihre Schläfen presste sich eine riesige Hand. Warum kam ihr denn niemand zu Hilfe? Durfte es sein, dass sie mitten in einem Spital, vor der Tür zum Krankensaal, zu Tode erfror? Eva verzog den Mund. Fast hätte sie gelacht, wäre das möglich gewesen mit ihren eisigen Lippen.
    Endlich erbarmte sich Gott ihrer und sandte einen Engel. Die Mauern taten sich auf, und aus gleißender Helle schwebte ein himmlisches Wesen

Weitere Kostenlose Bücher