Die Vagabundin
auf sie zu, das sanfte Gesicht in hellblauem Schein, umfing sie mit seinen Flügeln und trug sie mit sich hinfort.
«Wo bin ich?» Eva zog die Nase hoch, aus der es wie von einem schmelzenden Eiszapfen rann. «Es ist so kalt hier! Und wer hat …»
Der Rest ihrer Worte ging in ein mehrfaches Niesen über.
«Du bist bei mir, kleiner Adam, bei deiner Spitalmutter. Und da bleibst du vorerst auch.» Wie einem Kind putzte die Barreiterin ihr die Nase. «Warte, ich leg dir das Lammfell unter – mei,was bist du mager –, und eine Haube aus Schafwolle hab ich dir auch ergattert.» Vorsichtig hob sie Evas Nacken an und streifte ihr die wärmende Haube über. «Hab halt leider keinen Ofen hier. Aber so kalt ist’s gar nicht, von der Küche unter uns kommt’s warm herauf. Hast du Durst?»
«Ja. Was war das, Spitalmutter? Ist wieder der Veitstanz über mich gekommen?»
«Nein, mein lieber Junge. Du hattest einen Schwächeanfall. Wie konntest du aber auch in der Gegend herumspazieren, so ganz ohne Begleitung und dazu bei dieser Kälte? Hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt, wie du da halb totgefroren auf der Schwelle lagst! Zur Strafe hast dir jetzt einen schönen Katarrh geholt.»
Die Spitalmutter führte einen Becher mit Salbeiaufguss an ihre Lippen, den Eva kaum herunterbrachte, so sehr schmerzte ihr jetzt der Hals bei jedem Schluck. Mit einem Ruck wandte sie den Kopf zur Seite.
«Ich kann selber trinken. Bin schließlich kein Kleinkind. Und die Nase kann ich mir auch putzen, stellt Euch nur vor!»
Tränen der Wut und der Enttäuschung standen Eva jetzt in den Augen. Wieder lag sie ans Bett gefesselt und würde wahrscheinlich bis zum Frühjahr warten müssen, bis sie von hier wegkam.
Trotz Evas harscher Worte lächelte die Barreiterin und stellte den Becher auf dem Holzschemel ab, der neben dem Bett stand. «Wennst meinst. Ich muss wieder runter, nach den Kranken sehen. Wenn’s dir schlecht geht, läut einfach die Glocke hinter dir an der Wand.»
«Nein, wartet – es tut mir leid. Ihr seid so gut zu mir, wie eine leibliche Mutter. Danke!»
«Ach was, schon recht. Das ist mein Dienst an Gott und an den Menschen.» Ihr Gesicht wurde ernst. «Vielleicht ist’s aberauch, weil du mich an meinen jüngeren Bruder erinnerst, an meinen Lieblingsbruder. Und der hieß sogar Adam, genau wie du.»
«Hieß?»
«Er ist an der Roten Ruhr gestorben, als er zehn war – Gott hab ihn selig.»
«Das war sicher schlimm für Euch», murmelte Eva.
«Gewiss. Aber in allem Übel steckt auch der Keim zum Guten, man muss ihn nur finden. Ich hab meinen Bruder bis zum Tod gepflegt und dabei meine Bestimmung gefunden, nämlich den Kranken und Siechen zu helfen. Diesen Entschluss hab ich niemals bereut.» Sie lachte herzlich. «Sonst wär ich heut noch bei den Dominikanerinnen im Heilig Kreuz.»
«Ihr wart in einem Kloster?»
«Ja. Aber die strenge Klausur und das harte Regiment nach der Augustinusregel waren nichts für mich. Als mein Noviziat zu Ende ging und ich vor der feierlichen Profess stand, mit der ich mich auf ewig der Ordensgemeinschaft übergeben hätt, hab ich das Kloster verlassen. Dank der gütigen Mutter Priorin fand ich die Anstellung hier als Spitalmutter. Schon meine Vorväter waren in diesem Spital als Bereiter tätig, wie mein Name noch verrät. Aber genug geratscht, meine Pflicht ruft unten im Saal.»
«Bitte – da ist noch was: Meine ganze Habe ist verschwunden.»
«Keine Sorge, Adam! Ich hab alles sicher verwahrt. Auch unter Todkranken gibt’s schließlich Langfinger, und außerdem: Der Spitalmeister muss ja nicht wissen, was für ein prallgefülltes Geldsackerl du da mit dir rumschleppst. Das hätt sich nämlich schnell geleert, für die langen Tage hier im Siechenhaus. Aber keine Angst – ich hab das Geld nicht angerührt, und es ist wohl versteckt. Und jetzt schlaf, bis ich wiederkomm. Ich bring auch was zu essen mit.»
Eva sah ihr nach, wie sie energischen Schrittes das Zimmer verließ, dann sank sie zurück auf ihr Kissen. Die Barreiterin bewohnte im Dach der Schar, wie man das Siechenhaus hier nannte, eine geräumige Kammer, in das ein winziges Fenster nur spärlich Licht einließ. Ebenso spärlich war die Einrichtung: Außer Bett und Schemel gab es da nur noch eine grobgezimmerte Kleiderkiste und ein Waschtischchen und als einzigen Schmuck ein Kruzifix an der Wand. Eine zweite Schlafstatt konnte Eva nicht entdecken. Siedend heiß durchfuhr sie die Erkenntnis, dass sie mit der
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