Die Vagabundin
ihm hinterher, zappelte mit Armen und Beinen, ohne dass sie es wollte. Längst war sie zu Boden gesunken, kam nicht mehr hoch, ein kalter, schlammiger Grund, der sie festhielt wie eben noch Anselm, der an ihr saugte und zog, dass ihr die Luft wegblieb.
«Der Ärmste! Die Tanzwut!», «Dem ist der Dämon eingefahren!», «Holt den Priester!», «Falscher Bettler!», «Ins Narrenhäusl mit dem Gecken!» – die Satzfetzen quollen aus den Mondgesichtern, die sich zu ihr niederbeugten und wieder entfernten, immer zu zweit, denn plötzlich sah sie alles zweifach. Sie wollte antworten und vermochte doch nur unverständlichesZeug zu brabbeln, mit verzerrten Lippen. Als hätte sie ein zweites Paar Augen im Himmel, sah sie sich selbst jetzt im Dreck liegen, mit zuckenden Gliedern und einer hässlichen Grimasse auf dem Gesicht, über ihr schwankten die Quadermauern und Geschlechtertürme dieser Stadt. Warum nur kam ihr keiner zu Hilfe? Da, endlich – einer beugte sich über sie. Sie schrie auf vor Entsetzen, es war der Stiefvater! Ihr Schreien half, es kam die Hoblerin, die Gute!, und zog den Stiefvater weg, und auch der Bantelhans und der Wenzel Edelman kamen und zwei todtraurige Frauen, ihre Mutter und ihre Muhme, beide Arm in Arm, und eine strahlende Josefina dann mit einem Neugeborenen auf dem Arm und Niklas, als stattlicher, stolzer Jüngling. Alle waren sie gekommen, um bei ihr niederzuknien und sie zu trösten. Jetzt endlich durfte sie ihr Gaukelspiel beenden, jetzt war sie in Sicherheit. Jetzt konnte sie sich unbesorgt dem tiefen, dunklen Grund überlassen, den sie nun schon kannte. Ganz kurz noch, in einem hellen Lichtschein, erkannte sie Moritz, der die Arme nach ihr ausstreckte. Ein Seufzer kam über ihre Lippen, und das Nichts umfing sie als eine Erlösung.
36
Als Eva zum ersten Mal die Augen öffnete, lag sie in einem breiten, weichen Bett, dessen Weißzeug stark nach Kampfer roch, hoch über sich eine dunkle Holzbalkendecke. Sie wandte den Kopf zur Seite und blickte geradewegs in ein mildes, liebes Gesicht, das jetzt zu lächeln begann.
«Mutter!» Eva schluchzte auf, sank zurück in ihr Kissen und damit wieder in tiefen, traumlosen Schlaf.
Als sie das zweite Mal erwachte, zeigte sich ihr Bett längst nicht mehr so kommod. Mit einem ausgemergelten Greis musstesie den Platz teilen, der gotterbärmlich nach Schweiß stank und nach den ekligsten Winden, die einer nur von sich geben konnte. Dabei stöhnte und jammerte er in einem fort, wie arg ihn seine Gedärme schmerzten.
«Wo bin ich?», flüsterte Eva. «Wo ist meine Mutter?»
Eine Frau mit hellblauer Leinenhaube beugte sich über sie und strich ihr über die Wange.
«Du bist im Katharinenspital. Und wo deine liebe Mutter ist, kann ich dir leider nicht sagen. Ich bin hier nur die Spitalmutter.»
«Meine Mutter – ist tot.» Eva schloss erschöpft die Augen. Wenn Gott sie nur wieder zurückführen würde in das tröstliche Dunkel. Hier, in diesem Spital, mit diesem stinkenden Alten in einem Bett, wollte sie nicht bleiben. Und dann dieser Kopfschmerz und dieser brennende Durst! Sie leckte sich die gesprungenen Lippen. Und warum nur waren ihre Hände und ihre Stirn dick verbunden?
«Warte, ich helf dir.»
Die Spitalmutter schob ihr den linken Arm unter den Kopf und führte mit der Rechten einen Becher mit Kräutersud an ihren Mund.
«Trink das! Langsam und in kleinen Schlucken.»
Eva verzog das Gesicht ob des bitteren Geschmacks.
«Schmeckt scheußlich, was? Sind aber allerbeste Kräuter. Wegerich gegen den Kopfschmerz, Salbei gegen den rauen Hals. Und noch ein paar Mittelchen gegen deinen Anfall.»
«Was …» Das Sprechen fiel ihr schwer. «Was … ist … mit mir?»
«Du bist sehr krank, noch immer! Du warst bewusstlos und hattest dir alles aufgeschlagen, als sie dich vom Jakobstor hergeschleppt hatten. Ich werd jetzt den Herrn Pfarrer rufen lassen, zum gemeinsamen Gebet und auch, damit er dir die Beichteabnimmt und wir mit der Behandlung beginnen können. Aber zuvor sag mir noch eins: Hast du was eingenommen? Eine Arznei gegen Schmerzen etwa? Grad die Wanderärzte sind da oft rechte Quacksalber. Wenn die bei Herzleiden zu viel Fingerhut oder zu viel Tollkirsche gegen Bauchkrampf verabreichen, dann kann einer schon mal in solcherlei Tanzwut ausbrechen wie du vor drei Tagen.»
«Vor drei Tagen?», hauchte Eva.
«Hm.» Die Spitalmutter nickte. «Also – warst du bei solch einem Scharlatan?»
«Nein.»
«Oder hat man dir heimlich
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