Die Vagabundin
hinten, in Richtung der Burg. Weissenstein ist eine der mächtigsten Festungen hier im Nordwald, ihren Namen hat sie von dem hellen Quarzstein, der über etliche deutsche Meilen als schnurgrader Streifen das Gebirge durchschneidet. Mancherorts» – seine Augen hatten zu leuchten begonnen – «erhebt sich der Pfahl, wie wir das nennen, Hunderte Fuß hoch über die Wiesen und Wälder.»
Er atmete tief ein. «Jetzt bin ich zu Hause angekommen.»
Kurze Zeit später führte der Säumerpfad zu einem Bach, den sie auf einem wackligen Holzsteg überquerten. Dahinter befand sich, inmitten eines Buchenhains, eine Holzkapelle. Eine Schar Menschen drängte sich vor dem Eingang. Eva erkannte einige Gesichter aus ihrer ersten Unterkunft wieder.
«Das ist die Klause von Sankt Hermann. Er ist der Schutzherr der Säumer auf ihren gefährlichen Reisen und wacht auch über das Vieh und die Felder der Bauern hier. Gehen wir hinein – ich will Gott danken, dass er mich gesund heimgeführt hat.»
Es kostete sie einige Mühe, zwischen all den Heilssuchenden zu dem schlichten Altar vorzudringen, wo jeder von ihnen eine Kerze entzündete und zu beten begann.
«Gib, lieber Gott, dass es Josefina gutgeht, und auch Adam und unserer Mutter im Himmel. Amen», schloss Eva ihre Fürbitten. Ihren Stiefvater hatte sie mit keiner Silbe bedacht, zu heftig brannten noch Hass, Angst und Scham in ihr.
Als sie mit Niklas die Kapelle verließ, hatte leichter, steter Regen eingesetzt. Der Schneider wartete bereits unter dem Schirm einer Buche auf sie.
«Kommt, ich will euch noch was zeigen.»
Nur einen Steinwurf von der kleinen Kapelle entfernt sammelten sich wiederum Menschen jeglichen Alters und Standes, darunter jetzt etliche bresthafte.
«Der heilige Hermann», erklärte Edelman leise, «war mit der Gabe des Wunders und der Weissagung begnadet. Die Quelle da hatte er dem Boden entlockt, um die Menschen, die zu ihm kamen, zu stärken, zu trösten und zu heilen. Nehmt euch reichlich Wasser. Ich denk, ihr könnt es brauchen.»
Er betrachtete sie prüfend und einen Augenblick zu lange, wie Eva fand. Wusste er womöglich etwas über sie? Unsinn, sagte sie sich. Geduldig wartete sie, bis man sie an eine mit Steineingefasste Quelle vorließ. Vor sich erkannte sie den Malefizkerl mit der Lederhaube, der sich eben mit demütig gesenktem Haupt niederkniete. Sankt Hermann wird dir dein Ohr auch nicht zurückgeben, dachte sie gehässig.
Als sie an der Reihe war, schloss sie die Augen, um sich zu sammeln, dann nahm sie einen kräftigen Schluck und wusch sich die Augen mit dem heiligen Wasser. Seltsam, das kühle Quellwasser lag lauwarm und weich wie eine Salbe auf der Haut. Ein einziges Wunder nur erflehte sie von Sankt Hermann: dass Josefina ein gesundes Kind zur Welt bringen und ein neues Zuhause finden würde.
Der Regen wurde stärker, als sie ihren Weg fortsetzten. Bischofsmais ließen sie rechter Hand liegen und folgten auf halber Höhe einem Feldweg, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Niklas lief barfuß, denn seine Holzpantinen waren ihm mittlerweile zu klein geworden. Immerzu mussten sie auf ihn warten, wenn er sich mal wieder in den Kuhfladen, die rechts und links auf den Weiden lagen, die Füße wärmte.
«Was hast du dir denn bei der Quelle gewünscht? Neue Schuhe?», fragte Eva ihn.
«Nein! Dass wir bald wieder daheim sind.»
Beinahe trotzig klang seine Antwort, und im ersten Moment machte sie das wütend. Niemals würden sie nach Passau zurückkehren. Hatte Niklas das denn nicht begriffen? Dann aber erfasste sie Mitleid. Nur wegen ihr musste der Junge auf nackten, grün verfärbten Füßen durch den kalten Herbstregen wandern, ohne zu wissen, ob sie jemals wieder ein Zuhause finden würden. Das Schlimmste: Sie hatte ihm den eigenen Vater genommen. War es nicht reiner Eigennutz, dass sie ihn nicht im Elternhaus gelassen hatte? Dort, wo ein neunjähriger Junge auch hingehörte?
Ihr fielen keine tröstlichen Worte ein, und so stapfte sie schweigend weiter, durch Wiesen und Waldstücke, vorbei anHöfen, Mühlen und ärmlichen Weilern. Irgendwann führte ein steiler, tief eingeschnittener Hohlweg sie auf eine Kuppe, und Wenzel Edelman blieb stehen. Burg Weissenstein schien zum Greifen nahe, unter ihnen, etwas abseits des Weges, duckte sich eine Handvoll Häuser im nassen Grau des Regens.
«Wir sind da.» Ihr Weggefährte räusperte sich und sagte nach einer längeren Pause: «Was ihr noch wissen sollt: Meine Schwester ist – nun ja,
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