Die Vagabundin
ein wenig grob vielleicht. Aber ihr müsst keine Angst haben, sie meint es nicht so. Und es ist ja auch nur für eine Woche. Dann mach ich mich auf meine letzte Wanderung, bevor der Winter kommt, und bring euch zwei nach Straubing. Auf mein Ehrenwort.»
9
Odilia Edelmanin war tatsächlich eine grässliche alte Jungfer, zumindest auf den ersten Blick. Als junge Frau, im ersten Ehejahr, war sie bereits Witwe geworden und hatte sich nie wieder für einen Mann erwärmen können. Jetzt führte sie im Haus ihres Bruders ein strenges Regiment, herrschte über seine drei Kinder, eine Milchkuh und eine Schar Federvieh.
Schon bei der Ankunft hatte Niklas aus Angst vor ihr zu weinen begonnen.
«Was schleppst du da für Zigeunerpack an?», hatte die Frau zur Begrüßung geschnauzt. «Bist du narrisch geworden?»
Eva würde dieses Bild nie vergessen: wie die hagere, viel zu groß gewachsene Frau da in der Haustür stand, in Leinenschürze und ausgetretenen Pantoffeln, die Mundwinkel herabgezogen, die Arme in den Türrahmen gestemmt, um ihnen doch tatsächlich den Einlass zu verwehren. Und das, obwohl sie bis auf die Haut durchnässt waren und Niklas vor Kälte zitterte.
«Lass uns vorbei!» Edelman schob sie zur Seite und nahm den schluchzenden Niklas bei der Hand. «Komm nur mit rein. Wirst sehen, gleich wird’s dir bessergehen.»
Die Edelmanin bedachte Eva mit einem giftigen Blick, als sie sich an ihr vorbeidrängte, und warf krachend die Tür hinter ihnen ins Schloss. Gütiger Gott im Himmel, dachte Eva, bei diesem Weib halte ich es nicht einen einzigen Tag aus.
Sie standen in einem schmalen, düsteren Hausflur, von dem eine Treppe ins obere Stockwerk führte. Begleitet von der Schimpftirade der Hausfrau, zogen sie ihre triefenden Umhänge aus.
«Und wer wischt jetzt den Boden auf? Diese beiden Haderlumpen etwa?»
«Ach, Odilia», sagte der Schneider besänftigend, «kannst du dich denn nicht ein bisserl freuen über meine Rückkehr?»
Er blickte nach oben und breitete die Arme aus. «Na los, ihr Hasenherzen, kommt runter. Die beiden beißen nicht.»
Da erst entdeckte Eva die drei neugierigen Kindergesichter, die vom obersten Treppenabsatz zu ihnen herunterstarrten. Im nächsten Augenblick schon kamen sie mit lautem Geschrei angepoltert. Alle drei hatten sie lustige, sommersprossige Gesichter und rötlich braunes Haar. Das ältere Mädchen warf sich ihrem Vater in die Arme.
«Das ist Lisbeth, meine Älteste», erklärte Wenzel Edelman zwischen den Begrüßungsküssen seiner Tochter. Sein Gesicht strahlte voller Vaterstolz. «Sie ist sechs. Die Zwillinge heißen Bartholomä und Christopherus und sind vier.»
«Deine Tochter ist sieben», schnaubte die Edelmanin. «Aber wie sollst das auch wissen, wenn du dauernd unterwegs bist? Und kein Mensch nennt die Kleinen Bartholomä und Christopherus.»
Dann knurrte sie noch etwas Unverständliches vor sich hinund verschwand mit den nassen Umhängen durch eine Tür, die offenbar in den Stall führte.
Edelman lachte gutmütig. «Na gut, dann eben Bärtel und Stoffel. Und jetzt ab in die Küche, da ist es schön warm.»
Eine Stunde später drängten sie sich in trockenen Sachen um einen Topf mit dampfender Gemüsesuppe, Eva im Arbeitskleid von Edelmans verstorbener Frau, Niklas in einem viel zu großen Hemd, das ihm fast bis zu den Fußknöcheln reichte. Ihre sämtlichen Kleidungsstücke hingen nebenan im Kuhstall über einer Leine.
Nach dem Tischgebet verteilte Odilia Edelmanin die Löffel für die Suppe.
«Wie lang also wollen diese zwei sich hier einnisten?», fragte sie.
«Red nicht so daher. Eva ist die beste Näherin, die ich kenne. Mit ihr hab ich letzte Woche so viel verdient wie sonst in zwei Wochen. Sie soll dir im Haus helfen. Und Niklas kann Lisbeth beim Viehzeug zur Hand gehen. Wenn ich hier alles für den Winter gerichtet und geregelt hab, geh ich auf meinen letzten Rundgang in diesem Jahr und liefere die beiden bei ihrer Muhme in Straubing ab.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: «Sie sind nämlich Waisen.» Offenbar hoffte er, ein wenig Mitleid bei seiner Schwester zu erregen.
«Du hast doch einen Sparren zu viel! Straubing ist viel zu weit, jetzt, mitten im Herbst! Wie willst du heimkommen, wenn’s zu schneien anfängt?»
«Bislang bin ich immer heimgekommen. Und jetzt lasst uns essen, wir sind völlig ausgehungert.»
Gar so schlimm, wie es Eva sich bei ihrer Ankunft ausgemalt hatte, wurde es im Haus der Edelmans dann doch nicht. Die
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