Die Vagabundin
den Dicken, ob ihm zufällig eine Josefina Barbiererin aus Passau oder auch Glatz bekannt sei.
«Warum sollte sie?» Misstrauisch sah er sie an.
«Weil sie hier vielleicht Obdach gesucht hat. Und Hilfe; sie war schweren Leibes.»
«Glaubst du etwa, wir lassen schwangere Weiber rein? Damit die sich hier einnisten, ihr Bankert werfen und dann die Armenkasse für zwei Mäuler aufkommen muss? Nein, solche Metzen schicken wir gleich weiter, es sei denn, sie gebären auf der Türschwelle. Hier hinauf.»
Der Spitalknecht geriet vor Anstrengung ins Schnaufen, als sie über eine steile Stiege in den Schlafsaal gelangten. «Da – unterm Fenster – euer Strohsack.»
«Ich seh nur einen.»
«Kinder kriegen keinen eigenen Schlafplatz.»
«Ich hab aber für meinen Bruder mitbezahlt.»
Der Knecht zuckte die Schultern und wandte sich ab.
«Warme Suppe gibt’s Schlag sechs, Schlag acht ist Nachtruhe.» Damit war er auch schon treppabwärts verschwunden. Keinen Wimpernschlag später streckte sich Niklas auf ihrem Nachtlager aus und schlief ein. Eva setzte sich zu ihm. Immerhin lag der Strohsack auf einem Bettgestell, unter dem sich Mäuse und Ratten erfahrungsgemäß verkrochen, sodass man nachtsRuhe vor ihnen hatte. Sie blickte sich um. Jetzt, zur frühen Abendstunde, begann sich der Raum zu füllen. Das ganze Volk der Landstraße schien sich hier ein Stelldichein zu geben: Wanderkrämer, Kesselflicker und Scherenschleifer, darunter etliche Welsche und Savoyer, junge Knechte und Mägde auf der Suche nach Arbeit, drei, vier Pilger und Wanderprediger, dazu Bettler und anderes herrenloses Gesindel. Manche trugen nur noch zerlumpte Fetzen auf dem Leib, einem hatte die Franzosenkrankheit die oberen Lefzen und die halbe Nase weggefressen, sodass man kaum verstand, was er vor sich hin brabbelte.
Eine feine Gesellschaft!, dachte Eva. Übler noch als damals in der Saumstation. Sie würden ihre Siebensachen nicht aus den Augen lassen dürfen.
Wenigstens war der Schlafsaal sauber gekehrt, und das Nachtmahl, das kurze Zeit später ausgeteilt wurde, schmeckte nicht übel. Jeder erhielt einen großen Napf Gemüsesuppe, in der eine Speckseite schwamm, dazu einen Krug Weißbier. Dann, pünktlich mit dem Ruf des Nachtwächters, löschte der Spitalknecht die Lampe und ließ den bunt zusammengewürfelten Haufen in der Dunkelheit zurück.
Eva stopfte sich ihre Habseligkeiten unter den Kopf und lauschte dem Stimmengewirr rundum, das nur langsam abebbte und hier und da in Geschnarche überging. Binnen kurzem stank die Luft nach Schweiß und Fürzen. Irgendwann flüsterte eine Männerstimme ganz in ihrer Nähe:
«He, Madl! Du da, mit dem kleinen Rotzlöffel! Kannst dir was verdienen, wenn du unter meine Decke kommst.»
Eva wusste genau, dass sie gemeint war, und ihr Herz schlug augenblicklich schneller. Immer wieder hörte sie die leisen, lockenden Rufe. Sie versuchte, in den Schlaf zu finden, doch jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie das traurige Gesicht von Wenzel Edelman vor sich.
«Dann halt nicht, dumme Kuh», hörte sie von nebenan, danach war Ruhe.
Fest umklammert hielt sie ihren kleinen Bruder, als wolle sie ihn beschützen. In Wirklichkeit war sie selbst es, die Angst hatte: Angst vor dem Dunkel der Nacht und den fremden Menschen ringsum, vor allem aber vor dem, was in den nächsten Tagen auf sie zukommen würde.
Noch vor Sonnaufgang wurden sie von schlagenden Topfdeckeln geweckt.
«Los, los, auf, auf! Raus mit euch nach altem Gebrauch!», rief der dicke Knecht ein ums andere Mal, bis auch der letzte aufrecht auf seinem Bett saß. Kaum blieb ihnen die Zeit, den Becher Milch zu leeren, den ein verwachsener Knabe ihnen austeilte. Anschließend gab es noch einen Kanten Brot auf die Hand, und der Knecht trieb sie wie eine Schafherde durch die verwinkelten Gänge und Flure hinaus auf die Gasse, weiter durch die Vorstadt bis vor die äußere Stadtmauer.
«Und jetzt fort mit euch» – er klatschte in die Hände –, «geht mit Gottes Segen.»
Eva blinzelte gegen die aufsteigende Morgensonne. Einige aus ihrer Gruppe schlugen, kaum dass der Spitalknecht verschwunden war, den schmalen Pfad längs der Stadtmauer ein, der sie zum Kramtor und damit erneut zurück in die Stadt führte. Die Mehrheit allerdings blieb auf dem Hauptweg stadtauswärts.
«Ich bin noch so müde», jammerte Niklas.
«Das geht vorüber. Wenn nichts dazwischenkommt, sind wir in zwei, drei Tagen am Ziel.»
Das zumindest hatte man ihr im
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