Die Vagabundin
Klang an, sie wirkte weicher und jünger. «Merkst du nicht, wie ähnlich wir uns sind, du und ich? Ich – ich schätze nicht nur deine Fertigkeiten als Näherin, auch als Mensch stehst du mir nah – als Frau!»
Eva riss erschrocken die Augen auf. Was redete der Schneider da? Er musste verrückt geworden sein!
«Ich weiß, du bist noch jung, aber Odilia hat mir verraten, dass du sechzehn wirst, Ende des Jahres schon. Wir könnten dann heiraten, und alles hätt seine Richtigkeit!»
Ungeschickt legte er seinen Arm um ihre Schultern und näherte sein bärtiges Gesicht ihren Wangen. Da stieß sie einen spitzen Schrei aus.
«Weg! Lasst mich los!»
Sie sprang auf, zitterte am ganzen Leib. Sah plötzlich wieder den stieren Blick ihres Stiefvaters vor sich, dessen grabschendeHände, den alten Männerleib. Sie rannte zur Tür. Als sie sich noch einmal umdrehte, hockte Wenzel Edelman mit hängenden Schultern am Tisch, Tränen standen in seinen Augen.
In der Dunkelheit ihrer Schlafkammer holte sie tief Luft. Hierher würde er ihr wohl nicht folgen. Sie zwang sich, ruhiger zu werden. Von der Bettstatt her hörte sie die regelmäßigen Atemzüge der Kinder. Sie mussten fort von hier, noch heute Nacht.
So leise wie möglich packte sie ihr Bündel zusammen, während sie aus der Stube den Dielenboden unter Wenzel Edelmans Schritten knarren hörte. Kaum konnte sie die Hand vor Augen sehen, aber es war ohnehin nicht viel, was sie besaß. Zuletzt band sie den Beutel mit ihrem Ersparten an ihren Gürtel. Sie zögerte, schließlich nahm sie einen Teil der Münzen heraus. Sie würde das Geld für Kost und Unterkunft, wie jede Woche, auf die Schwelle zur Küche legen. Dann zog sie ihren schönen Lodenmantel über und legte die Kleider für Niklas zurecht. Das alles kam ihr so elendig bekannt vor – schon wieder musste sie Hals über Kopf fliehen.
Als endlich alles still war im Haus, weckte sie ihren Bruder.
«Kein Wort», warnte sie ihn im Flüsterton, «sonst setzt es was. Zieh das da an, wir müssen fort.»
Eine knappe Stunde später hatten sie die Bergkuppe erreicht, über die der Böhmpfad führte. Zum Glück kannte Eva den Weg auch im Finstern. Sie zog ihren Bruder in einen Unterstand für Holzfäller, an dem sie auf ihren Runden mit dem Schneider manchmal vorbeigekommen war.
«Hier warten wir, bis es hell wird.»
Niklas rieb sich den Knöchel, den er sich in der Dunkelheit an einer Wurzel gestoßen hatte. Trotzdem hatte er den ganzen Weg über tapfer keinen Ton gesagt, und Eva war ihm unendlich dankbar dafür. Jetzt aber begann er leise zu wimmern.
«Keine Angst, Igelchen. Es wird alles gut.» Sie zog ihn fest an sich. «Bald sind wir bei Josefina.»
«Aber warum?», stieß er hervor. «Warum mitten in der Nacht? Und ganz allein!»
«Weil wir bei diesen Leuten nicht bleiben können, deshalb!»
«Aber was haben sie uns getan?» In seiner Stimme lag tiefe Verzweiflung.
«Die Hausherrin glaubt, wir hätten sie bestohlen», log Eva. «Deshalb müssen wir schleunigst von hier weg.»
Als sich von Morgen her der Himmel aufhellte, kamen die ersten Wanderer vorbei, und Eva und Niklas schlossen sich drei jüdischen Tändlern an. Ein letztes Mal wandte sie sich um und sah hinunter auf den Weiler, dessen Häuser sich in die Lichtung des Berghangs schmiegten. Mittendrin schimmerte rosafarben im Morgenlicht das Dach des kleinen Hauses, in dem sie den Winter verbracht hatten. Ganz plötzlich ahnte sie, dass sie bei Wenzel Edelman womöglich zum letzten Mal ein Zuhause gehabt hatte. Mit einer warmen Küche, in der immer ein Topf Suppe auf dem Feuer stand, einer gemütlichen Wohnstube und einer sauberen Schlafkammer. Ein Haus, in dem dafür gesorgt war, dass alle zusammenkamen, miteinander arbeiteten, schwatzten und lachten und des Abends satt und zufrieden einschliefen.
Teil 2
Die Suche
Frühjahr 1563 – Frühjahr 1564
11
Acht Stunden lang marschierten sie strammen Schrittes, über raue Hochlagen, wo der Wind ihnen um die Ohren pfiff, bis sie schmerzten, durch lichte, freundliche Mischwälder, dann wieder durch feuchtkalte Talmulden, in denen sich der Schnee des scheidenden Winters in graubraune Matschsuppe verwandelt hatte und durch Schuhe und Strümpfe drang. Einmal waren sie auf die Spur eines Luchses gestoßen, ein andermal hörten sie aus der Ferne Wolfsgeheul, und jedes Mal war Eva gottfroh um ihre Reisebegleitung. Am späten Nachmittag endlich stiegen sie hinunter nach Deggendorf, dem weithin bekannten Tor zum
Weitere Kostenlose Bücher