Die Vagabundin
doch nur, wie abgemagert die beiden sind.»
«Was hat das mit uns zu tun?»
«Sie brauchen ein Dach überm Kopf. Zumindest vorübergehend. Bitte!»
Eva sprang auf. Sie hatte die Nase voll.
«Habt vielen Dank für Kuchen und Wein. Wir machen uns dann wieder auf den Weg. Ich hätt nur noch eine Frage …»
«Sitzen geblieben», befahl Endress Wolff. Tonfall und Blick verrieten, dass er gewohnt war, dass seinen Befehlen unmittelbar Folge geleistet wurde. «So, wie ihr ausseht, braucht ihr Erholung und eine anständige Mahlzeit. Ursula, zeig ihnen dasGästezimmer. Agatha soll es herrichten. Wir sehen uns dann zum Nachtessen.» Ohne dass seine Stimme eine Spur freundlicher geworden wäre, verließ er die Stube.
«Kommt, ihr beiden.» Ihre Muhme wirkte erleichtert.
Als sie kurz darauf die Schlafkammer ein Stockwerk höher betraten, stellte Eva endlich die alles entscheidende Frage:
«War unsere ältere Schwester hier? Josefina?»
«Josefina?» Das ohnehin blasse Gesicht ihrer Muhme erbleichte vollends. «Aber nein. Wie kommst du nur darauf?»
Evas Knie gaben nach, und sie sank auf das Bett. Alles Hoffen war umsonst gewesen!
19
Diesen ersten Abend im Haus ihrer Muhme erlebte Eva wie hinter einem Schleier. Es war der Hausherr selbst, der an die Kammertür klopfte und sie und Niklas zum Essen holte.
«Der Tisch ist gerichtet. Zuvor aber» – mit ernstem Blick musterte er Eva – «will ich eines wissen: Was soll diese Frage nach deiner Schwester? Warum sucht ihr sie? Warum bei uns?»
Der heftige Kopfschmerz, der Eva die letzten zwei Stunden gequält hatte, pochte erneut gegen ihre Schläfen.
«Josefina hat Passau verlassen müssen.»
«So wie ihr zwei ja wohl auch. Es tut mir von Herzen leid, dass dieser ungehobelte Mensch, der sich euer Vater nennt, euch vor die Tür gesetzt hat. Warum aber wisst ihr nicht, wo eure Schwester steckt? Was ist da vorgefallen?»
Eva hielt dem durchdringenden Blick des Oheims kaum stand. Was sollte sie ihm erzählen? Dieser stolze, selbstgefällige Mann würde doch rein gar nichts von dem Elend ihrer Familie verstehen.
«Josefina hat lange vor uns die Stadt verlassen.» Sie stockte.
«Weiter!»
«Sie war – sie war in ein großes Unglück geraten – ohne eigenes Verschulden. Der Sohn ihres Dienstherrn hatte sie belogen und betrogen –» Eva ärgerte es, dass sie ins Stottern geriet. «Er hat ihr ein Kind gemacht, und sie wurde aus der Stadt gejagt.»
Endlich war es heraus.
«Dachte ich mir so was doch», murmelte Endress Wolff. Dann fuhr er in seinem tiefen Bass fort: «Und warum sollte sie ausgerechnet zu uns gekommen sein?»
«Weil ihr die einzigen Verwandten unserer Mutter seid.»
«Glaubst du im Ernst, dass ein angesehener Kaufmann und Ratsherr wie ich ein gefallenes Mädchen ins Haus holen würde? Eine, der Anstand und Ehre keinen Pfifferling wert sind?»
«Aber sie hat ihn geliebt! Und dieser Mistkerl hat ihr die Ehe versprochen!»
«Schweig! Sie hat sich weggeworfen, das allein zählt. Selbst die eigene Tochter würde ich in solch einem Fall von der Schwelle weisen, dass du es nur weißt.» Die Verachtung stand ihm jetzt ins Gesicht geschrieben. «Hier in Straubing brauchst du also gar nicht erst suchen. Sie war niemals hier und wird hoffentlich auch nie hier aufkreuzen. Im Übrigen denke ich, dass sie längst in einem Winkelbordell gelandet ist, wie die meisten solcher Zuchteln, die Schande über sich und ihre Familie gebracht haben. Und jetzt kommt zu Tisch.» Sein Tonfall wurde milder. «Ihr sollt Gast sein in meinem Haus, es soll euch an nichts fehlen. Das ist schließlich Christenpflicht, wo ihr zur Familie gehört.»
Niklas brachte immerhin ein undeutliches «Danke» heraus, während sich Eva auf die Lippen biss. Irgendetwas an den Worten ihres Oheims hatte ihr Misstrauen geweckt. Sie vermochte nur nicht zu sagen, was.
Unten in der Wohnstube wartete bereits die restliche Familie. Eva wurde ein Platz neben Ursula Wolffin zugewiesen, während sich Niklas zwischen die Kinder zwängte. Mitten auf dem Tisch stand eine Suppenschüssel, aus der es nach Fleischbrühe duftete, daneben ein Körbchen mit hellem, feinem Semmelbrot, auch Herrenbrot genannt. Hier wurde augenscheinlich nicht aus einem Topf gegessen, denn für jeden war ein eigener Teller gedeckt. Löffel und Speisemesser lagen auf sauberen Leinentüchlein, die wohl zum Mundabwischen gedacht waren.
In jeder anderen Situation hätte sie ihrem Bruder einen warnenden Blick zugeworfen, sich nur ja
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