Die Vagabundin
Sommertag letzten Jahres gewesen, an einem Sonntag, und Ursula und Endress Wolff waren eben vom Kirchgang zurück, als ein Stadtwächter sie aufgesucht hatte: Eine junge Fremde warte am Passauer Tor und begehre Einlass. Sie hätte sich als Nichte des ehrenwerten Ratsherrn ausgegeben, sehe aber gar zu abgerissen aus, sodass man entschieden habe, den Fall zunächst zu prüfen.
Ihre Muhme hatte erst geglaubt, es handele sich um einen üblen Scherz, als sie und ihr Mann dem Wärter hinüber zum Torhaus gefolgt waren, aber dann hatte sie in dem blassen, abgemagerten Mädchen, das drinnen auf der Bank saß, sofort ihre Nichte Josefina erkannt. Und noch etwas hatte ihr Blick auf Anhieb erfasst: dass Josefina schweren Leibes war.
Über die Begegnung selbst hatte Evas Muhme kaum ein Wort herausgelassen, nur so viel gab sie Eva gegenüber preis, dass ihr Mann sich, mit Hinweis auf seine Stellung und Reputation in der Stadt, geweigert hatte, Josefina bei sich aufzunehmen, und sie selbst habe sich dem fügen müssen. Immerhin aber habe sie sich ausbedungen, das Mädchen nicht mittellos ziehen zu lassen, und ihr ein Bündel mit sauberer Kleidung und Wegzehrung ins Torhaus gebracht. Dabei habe sie ihr auch heimlich einige Silberstücke zugesteckt und ihr geraten, sich zum Zeitpunkt der Niederkunft an ein Spital zu wenden.
«Etliche Wochen lang hat mich das schlechte Gewissen nicht mehr schlafen lassen», hatte Ursula Wolffin ihren Bericht beendet. «Du kannst dir meinen Schrecken vorstellen, als dann ihr beide hier aufgetaucht seid. Glaube mir, Eva, ich bete jeden Tag für deine Schwester, aber ob ich damit etwas wiedergutmachen kann, bezweifle ich. Kannst wenigstens du mir verzeihen?»
Im Grunde hatte Eva das schon während des Geständnisses ihrer Muhme getan – welche Mittel besaß eine Frau schon gegen den eigenen Mann? Die Wut auf Endress Wolff hingegen ließ nur langsam nach. Liebend gern hätte sie ihm ins Gesicht gesagt, was sie von ihm hielt, doch um des Hausfriedens willen hatte sie ihrer Muhme versprochen, kein Wort mehr über Josefina zu verlieren, auch nicht ihrem Bruder Niklas gegenüber.
So vergingen diese ersten Wochen nach ihrer Genesung in einem Wechselbad der Gefühle. Ohnmächtiger Zorn und Enttäuschung wechselten sich ab mit tiefer Dankbarkeit für die Wärme und Fürsorge, die Ursula Wolffin ihr entgegenbrachte. Wo immer sich Eva im Haushalt nützlich machen wollte, achtete die Muhme darauf, dass die Arbeit nicht zu anstrengend wurde, und beste Kost gab es im Hause Wolff ohnehin. Dass der Rats- und Handelsherr uneingeschränkter Herrscher über seinkleines Reich hier am Stadtmarkt war und keine Widerworte duldete, merkte sie schon bald. Und auch, wie sehr ihre Muhme manchmal darunter litt. Nicht einmal in der Erziehung ihrer Kinder oder im Umgang mit Agatha und dem Küchenmädchen Zenzi hatte sie freie Hand.
Was Eva daher umso mehr verblüffte, war das Verhältnis des Hausvaters zu Niklas: Ihr Bruder war ihm tatsächlich wie ein leiblicher Sohn geworden. Ihm hörte Endress Wolff zu, ihm erteilte er das Wort zu diesem oder jenem, bei ihm konnte sein strenges Gesicht plötzlich weich werden und strahlen, wie es bei den eigenen Töchtern niemals der Fall war. Niklas selbst nahm das hin wie ein kostbares Geschenk, ohne Dünkel, aber auch ohne falsche Demut oder Unterwürfigkeit. Zugleich hatte er in seiner unbeschwerten, lustigen Art auch die Herzen der drei Mädchen erobert, vor allem das von Aurelia, der Ältesten. Kurzum: Niklas hatte das Zuhause gefunden, nach dem er sich gesehnt hatte. In dieser kurzen Zeit war er sichtlich aufgeblüht und schien alles Kindliche und Ängstliche verloren zu haben.
Die Vormittage verbrachte er in der Regel im Kontor oder im Warenlager, die sich beide zum Hof hin im Erdgeschoss befanden. Dort half er entweder dem alten Gesellen, dessen Augenlicht nachließ, die Ein- und Ausgänge der Waren zu erfassen, oder er sah Buchhalter Pfefferlein, einem gutmütigen, freundlichen Mann, ein wenig über die Schulter. Dass Niklas bereits seinen Namen schreiben konnte, hatte Eva gewusst, nicht aber, dass er fließend lesen konnte.
Es war ausgemachte Sache, dass Eva bis spätestens Martini, wenn sich die Mägde und Knechte gemeinhin in Stellung begaben und hierzu in allen größeren Flecken Gesindemärkte stattfanden, bei Wolffs Freund, dem Getreidehändler, vorstellig werden sollte. «Wenn er dir gar zuwider ist, finden wir was anderes für dich», hatte Ursula Wolffin ihr
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