Die Vagabundin
hob erschreckt den Kopf, und sofort packte sie wieder heftiger Schwindel.
«Ja, meine Liebe.» Ursula Wolffin strich ihr über die Wangen.«Du hast uns ganz schön in Sorge versetzt. Aber jetzt wird alles gut, wirst sehen. In ein paar Tagen bist du wieder beinander.»
Indessen dauerte es weitaus länger, bis Eva wieder zu Kräften kam. Als sie das erste Mal aufstand und auf schwankenden Beinen zum Fenster tappte, sah sie zu ihrem Erstaunen, dass der Ahorn im Hof seine Blätter bereits golden färbte.
«Du bist auf?»
Ihre Muhme war eingetreten, in der Hand einen Krug heiße Milch. Sie stellte ihn auf dem einzigen Tischchen im Raum ab und trat neben Eva ans Fenster. Schweigend sahen sie hinaus.
«Es wird Herbst», murmelte Eva schließlich. Ihre Gedanken kreisten um eine einzige Frage: Wo war Josefina in diesem Augenblick? Plötzlich erschien alles, was in den letzten Monaten geschehen war, so unsagbar sinnlos. Wie hatte sie nur dem Irrglauben verfallen können, ihre Schwester in Straubing wiederzufinden? Hier, in diesem viel zu großen, viel zu vornehmen Haus des selbstgerechten Oheims?
Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
«Bevor es Winter wird, ziehen wir weiter, Niklas und ich.»
«Nein, Eva. Tu mir das nicht an. Du weißt nicht, was sich in den letzten Wochen alles getan hat. Niklas ist glücklich hier, und für Endress ist er so etwas wie ein Sohn geworden. Der Sohn, den er sich immer gewünscht hat. Ich hab ihm ja leider immer nur Mädchen geboren, der einzige Junge ist im Kindbett gestorben, und seither ist es aus und vorbei für mich mit Mutterfreuden», fügte sie bitter hinzu. Dann lächelte sie, und ihre Augen blickten voller Wärme. «Was dich betrifft: Du glaubst nicht, wie sehr ich mit dir gelitten habe, als du krank warst. So blass und zerbrechlich, wie du da im Bett lagst, hatte ich manchmal geglaubt, meine liebe Schwester vor mirzu sehen. Jetzt weiß ich erst, was Blutsbande bedeuten. Bleibt bei uns!»
«Aber was soll ich hier? Ich – ich gehöre nicht hierher.»
«Weißt du denn, wohin du gehörst?»
Eva schüttelte den Kopf.
«Na also. Ich kann mir denken, dass dich die Art meines Mannes erschreckt, aber er ist nicht so hartherzig, wie du vielleicht denkst. Zumindest nicht in jeder Beziehung. Er mag seine Grundsätze haben, aber wer sich daran hält, kommt gut mit ihm hin. Und noch nie hat er sich gegen einen von uns zur Gewalt hinreißen lassen – ganz im Gegensatz zu deinem Stiefvater.»
Eva schluckte. «Was – was weißt du davon?»
«Einiges. Ich will dir was verraten, wovon nicht einmal mein eigener Mann etwas ahnt. Im letzten Herbst, als Endress mit seinen Fuhrleuten im Böhmischen unterwegs war, kam ein Stadtbote aus Passau hierher, mit zwei Bütteln. Er wollte wissen, ob ich deine Muhme sei und du hier Zuflucht gesucht hättest. Du hättest nämlich ums Haar Gallus Barbierer erstochen.»
Bei diesen Worten begann Eva augenblicklich zu zittern, und Ursula Wolffin legte ihr den Arm um die Schultern.
«Keine Angst, jetzt sucht keiner mehr nach dir. Ich habe dem Mann nämlich versichert, dass ich dich umgehend nach Passau bringen lasse, solltest du hier auftauchen. Damit war er’s zufrieden. Und ich schwöre dir, niemand war Zeuge dieses Gesprächs. Nur eine einzige Frage habe ich dazu, und ich wäre froh, wenn du sie mir ehrlich beantwortest: Was hat dein Stiefvater dir getan, dass du gegen ihn gegangen bist?»
Einen Moment lang war Eva versucht, sich loszureißen und davonzustürmen – vor Scham, vor Schrecken und vor der Qual der auf sie einstürzenden Erinnerungen. Dann aber spürte sie den Arm, der warm und mütterlich um ihre Schultern lag,spürte die Zuneigung, die von dieser Frau ausging. So berichtete sie in stockenden Worten von der Hölle im Haus ihres Stiefvaters.
«An Josefina hatte er sich auch rangemacht», schloss sie.
«Genau das dachte ich mir.» Ursula Wolffin schüttelte den Kopf. «Gütiger Herrgott, was habt ihr da nur durchgemacht.»
Sie schwieg lange Zeit. So lange, dass Eva ihre Offenheit schon wieder bereute.
«Da ist noch etwas, Eva», begann ihre Muhme wieder zu sprechen. Dabei blickte sie zu Boden.
«Wir haben dir nicht die Wahrheit gesagt. Deine Schwester war hier!»
20
Nur schwerlich kam Eva darüber weg, was sie an jenem Tag Anfang Oktober von ihrer Muhme erfahren hatte – dass Josefina nämlich in ihrer Not tatsächlich bei den Straubinger Verwandten um Hilfe gebeten hatte. Es war an einem schwülen
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