Die Vagabundin
der Mut zu fragen, hatte sie plötzlich verlassen.
Endlich setzte sich Ursula Wolffin wieder. Dabei betrachtete sie ihre zarten weißen Hände.
Es war Niklas, der das Schweigen brach. «Waren das vorhin hinter der Tür Eure Kinder?», fragte er mit vollem Mund.
«Ja, ich lass sie nachher holen. Drei Mädchen haben wir. Aber sag doch du zu mir, ich bin schließlich deine Muhme.»
«Und wo ist der Hausherr?», fragte Eva.
«Mein Gemahl ist bis heute Abend unterwegs. Oh, der wird Augen machen, wenn er euch sieht!»
Eva bezweifelte, dass dies freundlich gemeint war. Allzu verunsichert wirkte ihre Muhme mit einem Mal.
«Wenn wir zur falschen Zeit gekommen sind, dann – dann sag es nur», murmelte sie.
«Nein, nein, um Himmels willen! Ich bin nur überrascht. Es ist doch sehr weit von Passau herüber. Oder lebt ihr gar nicht mehr in Passau?» Jetzt überschlugen sich ihre Worte. «Das habe ich nämlich durch Zufall erfahren, dass ihr von Glatz nach Passau gezogen seid. Oder stimmt das gar nicht? Wie geht es eurem Herrn Vater, dem Gallus? Ach Gott, es tut mir so leid, dass sich unsere Familien ganz aus den Augen verloren haben. Ihr seid doch die Kinder meiner einzigen Schwester.»
Tränen schimmerten in ihren Augen, und Eva tat die Frau auf einmal leid. Ihr Besuch schien sie völlig durcheinanderzubringen. Ob es doch etwas mit Josefina zu tun hatte?
In diesem Moment sprang die Tür auf, und drei Mädchen stürmten herein, alle gekleidet wie vornehme kleine Damen.
«Ist es wahr, dass das da unsere Base und unser Vetter sind?», fragte die Älteste, die nur wenig jünger als Niklas und ein Abbild ihrer Mutter war. Jetzt musterte sie mit unverhohlener Neugier die Gäste.
«Ja, mein Schatz. Das sind Eva und Niklas, die Kinder meiner verstorbenen Schwester. Und das hier ist Aurelia, unsere Älteste. Die beiden anderen heißen Apollonia und Anastasia.»
Aus dem Augenwinkel konnte Eva sehen, wie sich ihr Bruder ein Grinsen verkneifen musste, wahrscheinlich ob der absonderlichen Namen.
«Bleiben die jetzt bei uns?», fragte Anastasia, die Kleinste der drei, und schob abschätzig die Unterlippe vor.
«Nun – das müssen wir alles noch besprechen. Jetzt geht wieder runter in die Küche. Ihr könntet Zenzi beim Gemüseputzen helfen.»
Murrend zogen die Kinder davon, und Ursula Wolffin richtete sich in ihrem Lehnstuhl auf.
«Es hat doch gewiss seinen Grund, dass ihr fort seid aus Passau? So ganz allein, ohne Begleitung.»
Niklas hielt mit dem Kauen inne und blickte zu Boden, während Eva unruhig auf ihrem Sitzkissen hin und her rutschte. Was sollte sie antworten? Dass sie ums Haar den eigenen Stiefvater gemeuchelt hatte?
«Wir sind gekommen, weil – weil.» Sie stockte. Es war ihr plötzlich unmöglich, auch nur annähernd die Wahrheit zu sagen. Zu ihrer Überraschung hob Niklas den Kopf und sagte mit fester Stimme: «Unser Vater hat uns vor die Tür gesetzt. Einfach rausgeworfen. Seitdem sind wir ganz allein unterwegs, fast ein Jahr schon.»
«Gütige Mutter Gottes!» Die Muhme riss entsetzt die Augen auf, schließlich murmelte sie: «Nein, so etwas, nein, so etwas – dieser Gallus, dieser garstige Mensch – ich hab es immer gewusst!»
Jetzt hatte Niklas wahrhaftig Tränen in den Augen, als er fortfuhr: «Bitte, liebe Muhme! Schick uns nicht gleich wieder weg. Ihr seid doch unsre einzige Verwandtschaft.»
«Keine Angst, mein lieber Junge, keine Angst.» Sie beugte sich vor und ergriff Niklas’ Hand. «Ich werd heute Abend alles mit meinem Gemahl besprechen.»
«Was willst du mit mir besprechen?», dröhnte eine tiefe Stimme. Den Türrahmen füllte eine mächtige Gestalt im erlesenen Gewand eines Handelsmannes. Das dichte blonde Haar, das an den Schläfen silbergrau schimmerte, fiel bis auf die breiten Schultern, ein sorgfältig gestutzter Vollbart bedeckte das rötliche Gesicht. Umso mehr stachen die blauen Augen hervor, die jetzt fast böse in die Runde blitzten.
«Du bist schon zurück?» Ursula Wolffins Worte waren kaum zu verstehen.
«Was also willst du mit mir besprechen?», wiederholte Endress Wolff.
«Verzeih, lieber Mann, du weißt ja gar nicht – sieh nur, wer gekommen ist: zwei meiner Schwesterkinder, Eva und Niklas Barbierer aus Passau. Ist das nicht eine Überraschung?»
Der stattliche Mann schien keineswegs erfreut. «Das ist es, fürwahr. Und was wollen die beiden hier?»
«Sie haben kein Zuhause mehr. Ihr hartherziger Vater – ich hab dir von ihm erzählt – hat sie weggejagt. Schau
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