Die Vampir-Dschunke
die Fluten, deren graue Farbe an schmelzenden Fels erinnerten. Weite grüne Flächen, wenig Häuser, kaum Felder, aber hin und wieder tauchten auch Siedlungen auf, die irgendwie namenlos wirkten. Der Moloch London streckte seine Fühler auch in diese Richtung aus, und bestimmt würde irgendwann noch eine Uferstraße gebaut.
Das Flussbett nahm sehr bald an Breite zu. Die Gegend blieb nicht mehr so flach. Sie nahm eine etwas wellige Form an. Ein Hinweisschild deutete auf ein in der Nähe liegendes Industriegebiet hin, das von der Schnellstraße aus gut zu erreichen war.
Justine glaubte daran, dass sie nicht mehr lange fahren musste. Sie suchte einen Platz, von dem aus sie beobachten konnte, und dieser Ort sollte nicht zu tief liegen.
Wenn die Dschunke eintraf, dann musste sie einfach diesen Weg nehmen. Sie konnte sich nicht verstecken. Sie würde gesehen werden, und Justine fragte sich, ob das beabsichtigt war. Sie wollte es nicht glauben. Die Besatzung hatte sicherlich etwas anderes vor.
Die Themse blieb zwar in ihrem Bett, aber es gab auch einige Abzweigungen. Vor langen Jahren mochten es Nebenflüsse gewesen sein. Jetzt konnte man sie als tote Flussarme bezeichnen, die nicht mehr sehr lang waren und wie kleine Fjorde wirkten.
Brücken gab es bei diesen Armen nicht. Justine musste sie schon umfahren. An den Ufern sah sie einige Angler sitzen, und am Ende des toten Flussarms zeichneten sich die Häuser einer kleinen Siedlung ab. Sie ging davon aus, dass die Bauten bewohnt waren, doch als sie sich näherte, erkannte sie, dass es sich um Lagerhäuser handelte. Dunkle Vögel saßen auf deren Dächern und ruhten sich aus.
Die schmale Straße führte an den Häusern vorbei. Der Name einer großen Lebensmittelfirma stand auf den Bauten zu lesen. Menschen, die hier arbeiteten, sah Justine nicht.
Die Vampirin war leicht enttäuscht. Sie hatte damit gerechnet, schneller auf die Dschunke zu treffen, aber wie jetzt zu sehen war, musste sie weiterhin warten.
Über einen schmalen Weg rollte sie wieder in die Nähe des Flussufers und stellte den BMW ab. Sie stieg aus. Es war nicht mehr so warm wie am Mittag. Man merkte durchaus, dass der Monat Oktober seine Hand ausgestreckt hatte. Auch wenn die Sonne schien, besaß sie nicht mehr die Kraft, die nötig war, um die Welt zu erwärmen.
Justine wollte warten.
Es war eine einsame Stelle, die sich die Blutsaugerin ausgesucht hatte. Weit und breit gab es kein Haus zu sehen. Zudem nahmen ihr die flachen Hügel die Sicht.
Sie ging bis zum Ufer. Das hohe Gras umspielte ihre Füße. Dann lief sie über nasse Steine hinweg und hielt dort an, wo die Wellen ausliefen und über Steine rollten.
Ihr Blick glitt über den Fluss hinweg. Das andere Ufer konnte sie problemlos erkennen. Dazwischen allerdings bewegten sich die Schiffe, die entweder gezogen wurden oder selbst fuhren.
Auch Ausflugsboote schaufelten durch das graue Wasser. Es gab Menschen, die als Einzelpersonen über die Wellen huschten und in schnellen Booten saßen, aber es gab auch die hochseetauglichen Schiffe, die von der Nordsee her der Stadt London entgegenfuhren.
Alles lief normal ab. Eine durch Wolken fast verdeckte Oktobersonne malte sich am Himmel ab, der Wind hielt sie in Grenzen, und das Rauschen des Wassers war eine ewige Melodie.
Das alles nahm eine Person wie die Cavallo nicht zur Kenntnis. Es war ihr egal, ob sie in der Kälte stand oder sich in der Hitze aufhielt. Das unterschied sie eben von einem Menschen.
Würde die Dschunke eintreffen? Und wenn ja, wann war es so weit? Justine hatte keinen konkreten Hinweis bekommen. Sie hoffte aber darauf, sie endlich zu sehen. Es war ein Job, eine Aufgabe. Sinclair hatte sie eingesetzt, und sie wollte ihm zeigen, wozu sie in der Lage war. Er hatte ihr nicht mitgeteilt, wie sie sich zu verhalten hatte, und so ließ Justine zunächst alles auf sich zukommen.
Sie schaute sich den Fluss an. Sie sah alles, was wichtig war. Mit geschärften Sinnen stand sie vor dem Wasser. Innerlich erlebte sie wieder einen Schub der Erregung, als wollte ihr jemand seine Ankunft ankündigen. Sie wartete auf die Dschunke und auf ihre Besatzung.
Minuten später nur passierte etwas, das man als herbstliches Phänomen bezeichnen konnte. Wie aus dem Nichts heraus entstanden Wolken über dem Wasser und auch an den Flussufern. Nebel kroch heran, graue dichte Schwaden, die sogar den Blick auf den Himmel verdeckten. Auch über den feuchten Wiesen war der Dunst zu sehen, und wenn Justine den
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