Die Vampire
»Sie hegen offenbar Bewunderung für diesen Mann. Oder doch zumindest für seine Sache?«
»Das wäre dieser Nächte reichlich unklug.«
»Dennoch …«
Mackenzie lächelte. »Ich wäre ein Heuchler, wollte ich von Klatka betrauern oder gar Mitleid für John Jago empfinden.«
»Und wenn nun nicht von Klatka das Opfer gewesen wäre, sondern …«
»Sie? Dann verhielte sich die Sache vielleicht etwas anders. Wohlgemerkt, vielleicht. Der Sergeant hätte zwischen Ihnen und Ihrem Kameraden wohl kaum einen Unterschied gemacht. Weiter vermag ich den Gedanken seiner Brotherren nicht zu folgen.«
Kostaki dachte einen Augenblick nach. »Ich werde wahrscheinlich mein Bein verlieren.«
»Das tut mir ausgesprochen leid.«
»Was gedenken Sie gegen den Sergeant zu unternehmen? Oder wollen Sie ihn weiterhin seiner geheimnisvollen Sache dienen lassen?«
»Ich sagte Ihnen doch bereits, ich bin Gendarm mit Leib und Seele. Sowie ich über Beweise verfüge, die Warren unter keinen Umständen leugnen kann, werde ich sie ihm vorlegen.«
»Danke, Schotte.«
»Wofür?«
»Für Ihr Vertrauen.«
Auf dem Pult befand sich eine große Anzahl loser Blätter, die mit einer Hieroglyphen ähnelnden Kurz- oder Geheimschrift bedeckt waren.
»Nanu«, rief Mackenzie aus, »was haben wir denn da?« Er hielt den mit Bleistift verfassten Entwurf eines Briefes in die Höhe. Er war unverschlüsselt. »Lestrade wird krank werden vor Neid«, sagte er. »Und Fred Abberline erst. Kostaki, sehen Sie nur …«
Kostaki warf einen Blick auf den Brief. Er hub an mit den Worten »Werter Meister« und schloss: »Ganz der Ihrige, Jack the Ripper.«
44
Am Hafen
D er Leichnam war bei Cuckold’s Point, in der Flussbiegung von Limehouse Reach, ans Ufer gespült worden. Drei Männer waren vonnöten gewesen, ihn aus dem quatschenden Schlamm zu ziehen und auf dem erstbesten Kai niederzulegen. Noch ehe Geneviève und Morrison eintrafen, hatte jemand sich die Mühe genommen, dem leblosen Körper einen Anschein von Würde zu verleihen, indem er seine schlaffen Glieder entwirrte und die tropfnassen, schmutzstarrenden Kleider notdürftig in Ordnung brachte. Um das Zartgefühl der Werftarbeiter und Dockbummler nicht zu beleidigen, wurde eine Segeltuchbahn über den Toten ausgebreitet.
Anhand der Gravur im Deckel seiner Taschenuhr und, erstaunlich genug, einer auf seinen Namen ausgeschriebenen Bankanweisung hatte man ihn bereits identifiziert. Dennoch kamen sie nicht umhin, die Identität des Leichnams formell zu bestätigen. Als der Constable das Segeltuch lüftete, stießen vereinzelte Zuschauer übertriebene Ekellaute aus. Erschrocken wich Morrison zurück und wandte sich ab. Die Fische hatten Druitts Gesicht angefressen; trotz der leeren Augenhöhlen und des teuflischen
Grinsens seiner bloßen Zähne erkannte Geneviève ihn sogleich an Haaransatz und Kinn.
»Er ist es«, sagte sie.
Der Constable ließ das Tuch sinken und dankte ihnen. Morrison bestätigte Genevièves Aussage. Ein Wagen stand bereit, um den Leichnam fortzubringen.
»Ich glaube, er hatte Familie in Bournemouth«, erklärte Morrison dem Polizisten. Pflichtschuldig machte sich der Constable eine Notiz.
Der Colonel hatte Wort gehalten. Druitts Taschen waren mit Steinen vollgestopft; zwar hatte man ihm keinen Abschiedsbrief untergeschoben, die Folgerung jedoch war unausweichlich. Ein zweiter Mörder trieb fröhlich sein Unwesen: Diesmal allerdings würde die Polizei keinen Feldzug gegen ihn eröffnen, setzte der Diogenes-Club gewiss keinen seiner Spürhunde auf ihn an. Was war am Ripper schon Besonderes? Fünfzig Yards im Umkreis des Flusses gab es wenigstens ein Dutzend gleichermaßen grausamer, ruchloser Gesellen. Der Whitechapel-Mörder war aller Voraussicht nach ein Irrer; Moran und seinesgleichen konnten nicht einmal dies als Entschuldigung anführen. Mord gehörte schlechtweg zu ihrem répertoire.
Als man Druitt auf den Wagen hievte, hatte das Schauspiel ein Ende. Die Bummler und Müßiggänger machten sich auf zum nächsten Spektakel, und die Polizisten widmeten sich wieder ihren Pflichten. Geneviève und Morrison blieben an der Kaimauer zurück. Sie gingen zur Rotherhithe Street, wo sich Reepschlägerwerkstätten, Schenken, Seemannsunterkünfte, Speditionsbüros und Bordelle aneinanderreihten. Dieses Viertel Londons schien wie aus Tausendundeiner Nacht, wie ein Basar im lichten Nebel. Hundert verschiedene Sprachen gingen wirr durcheinander. Überall wimmelte es von Chinesen, und ein
Weitere Kostenlose Bücher