Die Vampire
jedes Seidenrascheln erfüllte Geneviève mit Grauen.
Plötzlich stand eine verschleierte Gestalt vor ihr. Eine Vampirfrau im schwarzen Pyjama. Sie machte eine reumütige Verbeugung, und ihr Schleier teilte sich. Geneviève erkannte das chinesische Mädchen aus dem Alten Jago, das für den Herrn der seltsamen Tode gesprochen hatte.
»Dieses Unrecht wird nicht ungesühnt bleiben«, sagte sie. »Sie haben das Wort meines Herrn.«
Dann war das Mädchen verschwunden.
»Was hatte es denn damit auf sich?«, fragte Morrison.
Geneviève zuckte mit den Achseln. Das Mädchen hatte Mandarin gesprochen. Wenn man Charles Glauben schenken wollte, so gab es keinen Zweifel, dass Colonel Moran die Folgen seiner Taten zu spüren bekommen würde. Wenn er jedoch büßen musste, dann nicht für einen brutalen Mord, sondern für einen unnötigen brutalen Mord.
Das Mädchen war im Getümmel untergetaucht.
Geneviève hegte keineswegs die Absicht, sogleich zur Hall zurückzukehren. Sie wollte Charles ausfindig machen, weniger jedoch um seinetwillen als vielmehr, um sich nach dem Wohlergehen seiner glücklosen Verlobten zu erkundigen. Penelope Churchward, deren Bekanntschaft gemacht zu haben sie sich nicht recht freuen konnte, hatte ihre Besorgnis erweckt. Unzählige wurden in den feurigen Schlund der Hölle geworfen. Wie viele würde sie vor ihrem Schicksal bewahren können? Druitt nicht, so viel stand fest. Ebenso wenig Lily Mylett. Oder Cathy Eddowes.
Morrison redete vertraulich auf sie ein. Sie hatte ihm nicht zugehört und bat ihn um Verzeihung.
»Es geht um Dr. Seward«, wiederholte er. »Ich habe Angst, dass er sich vollends zum Narren macht mit seiner Lucy.«
»Lucy?«
»So nennt sie sich wenigstens.« Morrison gehörte zu der Handvoll Menschen, die Jack Sewards geheimnisumwobener Geliebten
begegnet waren. Sie hatte ihn nicht zu beeindrucken vermocht. »Wenn mich nicht alles täuscht, so ist sie uns durchaus bekannt. Wenn auch unter anderem Namen und in abgerissenen Kleidern.«
»Jack ist seit jeher viel zu unnachgiebig gegen sich selbst. Vielleicht vermag diese amour ihn ja von seiner permanenten Erschöpfung zu kurieren.«
Morrison schüttelte den Kopf. Es bereitete ihm sichtlich Mühe, seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen.
»Sie haben doch gewiss keine gesellschaftlichen Einwände gegen das Mädchen? Ich hatte eigentlich angenommen, derlei Dinge hätten wir hinter uns gelassen«, sagte Geneviève.
Morrison schaute verdutzt drein. Da er selbst aus bescheidenem Hause stammte, hätte seine Arbeit ihn Verständnis für die Lage noch der Niedrigsten und Schandbarsten unter seinen Mitmenschen gelehrt haben müssen. »Mit Dr. Seward stimmt etwas nicht«, insistierte er. »Äußerlich erscheint er ruhiger und gelassener denn je. Innerlich aber hat er sich nicht mehr in der Gewalt. Manchmal vergisst er sogar unsere Namen. Oder weiß nicht, in welchem Jahr wir uns befinden. Ich glaube, er träumt sich gleichsam in eine arkadische Zeit zurück, vor der Ankunft unseres Prinzgemahls.«
Geneviève sann darüber nach. Sie fand Jack neuerdings verschlossener als sonst. Zwar war er ihr gegenüber nie so offenherzig gewesen wie zum Beispiel gegenüber Charles oder Arthur Morrison, aber in den vergangenen Wochen hatte er kaum noch etwas von sich preisgegeben, als sei sein Herz mit Bleiplatten verrammelt, die ebenso solide waren wie der Schrank, in dem er seine kostbaren Wachszylinder aufbewahrte.
Sie blieben stehen, und Geneviève ergriff Morrisons Hand. Bei der Berührung seiner Haut explodierten winzige Erinnerungen. Noch floss ein wenig von Charles’ Blut in ihren Adern, und im Geiste sah sie nebelhafte Bilder ferner Länder. Wie durch ein Fliegenfenster
erblickte sie ein schmerzverzerrtes Antlitz, das seiner verstorbenen Gattin zu gehören schien.
»Arthur«, sagte Geneviève, »der Wahnsinn ist wie eine Seuche. Wie das Böse ist er überall. Da uns nicht allzu viele Mittel in die Hand gegeben sind, dem Abhilfe zu schaffen, müssen wir lernen, mit ihm zu leben, ihn uns zunutze zu machen. Die Liebe ist immer auch eine Art von Wahnsinn. Und wenn Jack in dieser verdrehten Welt sein Plätzchen findet, wem soll es schaden?«
»Sie heißt nicht Lucy. Ich glaube, sie hatte einen irländischen Namen … Mary Jean, Mary Jane?«
»Schwerlich ein Beweis niederträchtiger Perfidie.«
»Sie ist ein Vampir.« Als ihm schwante, was er soeben gesagt hatte, hielt Morrison inne. Beschämt versuchte er, den Schaden wiedergutzumachen. »Ich
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