Die Vampire
zurückzulegen oder unter dem Traitor’s Gate hindurchzutauchen und ein Bad in der Themse zu nehmen.
»Wo sind denn die Raben?«, fragte er.
Der Yeoman Warder zuckte mit den Achseln. »Fort, Sir. So sagt man.«
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Paarungsgewohnheiten des gemeinen Vampirs
S ein Haus war faszinierend, und seine Bücher und Bilder bestätigten ihre Vermutungen. In der Bibliothek entdeckte Geneviève ein Pult, auf dem sich mit Lesezeichen versehene Bände türmten. Charles hegte mannigfaltige Interessen; gegenwärtig beschäftigte er sich mit Ein moderner Apostel und andere Gedichte von Constance Naden, Nach London von Richard Jefferies, Die wahre Geschichte der Welt von Lucian de Terre, Versuche über den Nutzen von Bildung und Erziehung von Mark Pettison, Die Wissenschaft von der Ethik von Leslie Stephen und Das unbekannte Universum von Peter Guthrie Tait. Zwischen seinen Büchern fand Geneviève gerahmte Fotografien von Pamela, einer Frau mit markanten Zügen und einer präraffaelitischen Haarmähne. Sämtliche Bilder zeigten Charles’ Gattin im Sonnenschein, zufrieden in sich ruhend, während alle anderen steif posierten.
Auf einem Regal fand sie Feder und Tinte und überlegte, ob sie eine Nachricht hinterlassen sollte. Sie nahm die Feder zur Hand, aber ihr fiel nichts ein, was der Mitteilung wert gewesen wäre. Wenn Charles aufwachte, würde sie fort sein, doch das bedurfte keiner Entschuldigung. Er wusste, was es hieß, seinen Pflichten nachzukommen. Schließlich schrieb sie nichts weiter, als dass sie abends in der Hall zu finden sei. Vermutlich würde er nach Whitechapel zurückkehren und ihr einen Besuch abstatten wollen. Es gab immerhin einiges zu besprechen. Nach kurzem Zögern setzte sie die Worte »In Liebe, Geneviève« unter das Briefchen, der Akzent ein winziger Schnörkel über ihrer schwungvollen Signatur. Die Liebe selbst bereitete ihr kein allzu großes Kopfzerbrechen; das Reden darüber indes zehrte an ihren Nerven.
Nach zwei vergeblichen Versuchen gelang es Geneviève zu guter
Letzt, einen Droschkenkutscher zu finden, der bereit war, ein Vampirmädchen ohne Begleitung von Chelsea nach Whitechapel zu befördern. Obgleich ihr Ziel sich keineswegs außerhalb des recht willkürlich festgelegten Viermeilenradius befand, den kein Hansom je verlassen durfte, verlangten die Kutscher oftmals ein zusätzliches Entgelt, wenn sie eine Fuhre machen sollten, deren Bestimmungsort in jener östlichen Richtung lag.
En route versuchte sie, schläfrig gemacht vom sanften Schlingern der Räder und einem Gefühl satter Zufriedenheit, nicht über Charles und die Zukunft nachzudenken. Im Laufe ihres langen Lebens hatte sie so viele Liebschaften durchlitten, dass sie genau wusste, was sie von einem gemeinsamen Dasein zu erwarten hatten. Charles war Mitte dreißig. Sie würde unverändert sechzehn bleiben. In fünf oder zehn Jahren würde alle Welt sie für seine Tochter halten. In dreißig oder vierzig Jahren wäre er tot; insbesondere wenn sie sich weiter von ihm nährte. Wie so viele Vampire hatte sie, unter tätiger Mithilfe ihrer Opfer, all jene zugrunde gerichtet, die ihr ans Herz gewachsen waren. Der einzige Ausweg blieb, ihn zu verwandeln; als seine Fangmutter würde sie ihm ein neues Leben schenken und ihn schließlich an die weite Welt verlieren wie alle Eltern ihre Kinder.
Sie überquerten den Fluss. Und die Stadt wurde lauter, enger, voller.
Zwar gab es Vampirpaare, ja sogar Vampirfamilien, doch hielt sie derlei für äußerst unklug. Nach einigen Jahrhunderten strebten sie danach, zu einem Wesen mit zwei, wenn nicht mehreren Leibern zu verschmelzen, die einander die Lebenskraft aussaugten, bis sie ihre Individualität verloren. Sie standen in dem Ruf, noch grausamer und ruchloser zu sein als selbst die Grausamsten und Ruchlosesten unter den untoten Räubern und Banditen.
Es war ein kalter, grauer Morgen. Der November hatte Einzug gehalten, und Halloween und Guy Fawkes’ Night waren ohne
größere Feierlichkeiten vorübergegangen. Der Nebel war so dicht, dass kein Sonnenstrahl die Straßen erhellte. Die Droschke kam nur langsam voran.
Dieses Mal hatte sich die Welt tatsächlich verändert. Die Vampire lebten nicht länger im Verborgenen. Sie und Charles würden keineswegs einzig sein in ihrer Art, ja nicht einmal etwas Besonderes. Ihre kleine Tändelei wiederholte sich gewiss in tausend Spielarten im ganzen Land. Vlad Tepes hatte nicht bedacht, welche Verwicklungen sein Aufstieg zur Macht nach sich ziehen würde.
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