Die Vampire
unterlegen. Allmählich erst begriff er das ganze Ausmaß seiner neuen Fähigkeiten. Er war noch nicht an seine Grenzen gestoßen.
Bald nach Einbruch der Dunkelheit war er auf einem Spaziergang durch den Hyde Park einer ihm flüchtig bekannten jungen Dame begegnet. Sie hieß Helena Soundso und hatte bisweilen Florence’ soirées noires besucht, zumeist in Begleitung eines jener dümmlichen Schauspielerfreunde Mrs. Stokers. Zunächst bannte er sie mit seinem Blick. Dann geleitete er sie zu einem bequem gelegenen Aussichtshäuschen und zwang sie, ihre Gewänder abzustreifen. Hernach öffnete er ihr die Halsschlagader und saugte sie fast aus. Als er sie verließ, war sie am Leben - noch.
Nun war er erfüllt von Helenas köstlichem Geschmack. Mit jeder neuen Explosion in seinem Schädel erfuhr er mehr über das
warmblütige Mädchen. Ihr armseliges Leben gehörte ihm. Jeder Schuss Blut machte ihn stärker.
Über ihnen befand sich der White Tower, der älteste Teil der Festung. Ganz in der Nähe lag die Cell of Little Ease, eine Kammer von vier Fuß Größe im Quadrat, die dergestalt beschaffen war, dass ein Gefangener weder stehen noch liegen konnte. In ihr hatten Gegner der Krone wie Guy Fawkes auf ihre Hinrichtung gewartet. Selbst die weniger unangenehmen Räumlichkeiten waren nichts weiter als Käfige aus Stein, die eine Flucht unmöglich machten. Die massiven Holztüren waren mit winzigen Gittern versehen. Aus so mancher bewohnten Zelle drang das Stöhnen und Ächzen der Verdammten an Godalmings Ohr. Die Gefangenen waren dem Verhungern nahe. Viele unter ihnen hatten ihre Adern angebissen und sich schlimme Wunden zugefügt. Graf Orlok war dafür berüchtigt, dass er gegen seinesgleichen mit äußerster Härte vorging und ihren Verrat mit einer Gefangenschaft bestrafte, die nichts anderes bedeutete als einen langen, langsamen Tod.
Kostaki saß in einer dieser Zellen hinter Schloss und Riegel. Godalming hatte Erkundigungen über den Gardisten eingezogen. Er war ein Ältester und hatte Dracula bereits zu Lebzeiten gedient. Seit seiner Verhaftung war kein Wort mehr über seine Lippen gekommen.
»Hier, Sir.«
Der Yeoman Warder, der in seiner buffonesken Uniform ein wenig albern wirkte, zog seinen Schlüsselring hervor und öffnete die drei soliden Schlösser. Als er seine Laterne absetzte, um die schwere Tür in Angriff zu nehmen, tanzte sein riesiger Schatten über die Steinquader hinter ihm.
»Das genügt«, wandte sich Godalming an die Wache, indem er die Zelle betrat. »Ich werde rufen, wenn ich fertig bin.«
In der Düsternis erblickte Godalming brennende rote Augen. Weder der Gefangene noch er selbst benötigten eine Laterne.
Kostaki hob den Kopf und sah seinen Besucher an. Godalming vermochte in seinem zerfurchten Gesicht beim besten Willen keinen Ausdruck zu entdecken. Zwar war es keineswegs von Fäulnis befallen, doch haftetete es an seinem Schädel wie altes Leinen, steif und modrig. Nur seine Augen ließen auf einen Funken Leben schließen. Der Karpater lag an eine strohgedeckte Feldbettstelle gebunden. Eine ledergepolsterte Silberschelle umschloss seinen gesunden Knöchel, und eine massive Kette aus Silber und Eisen fesselte ihn an einen in die Mauer eingelassenen Ring. Ein Bein des Ältesten war zu nichts mehr zu gebrauchen, und ein Wulst aus besudelten Bandagen lag um sein zerschmettertes Knie. Der Gestank von verdorbenem Fleisch erfüllte die Zelle. Eine Silberkugel hatte den Ältesten getroffen. Kostaki hustete. Das Gift strömte in seinen Adern, breitete sich aus. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
»Ich war dort«, verkündete Godalming. »Ich habe gesehen, wie der scheinbare Polizist Inspektor Mackenzie umgebracht hat.«
Kostakis rote Augen blieben starr.
»Ich weiß, dass man Sie fälschlich des Mordes bezichtigt. Sie haben es allein Ihren Feinden zu verdanken, dass Sie in diesem Dreckloch sitzen.« Mit ausgestrecktem Arm wies er in der niedrigen, fensterlosen Zelle um sich. Sie hätte ebenso gut ein Totengrab sein mögen.
»Ich habe sechs Jahrzehnte im Château d’If verbracht«, erwiderte Kostaki. »Im Vergleich dazu ist dieses Quartier recht komfortabel.«
Seine Stimme war unverändert kräftig und erstaunlich laut in dem beengten Raum.
»Wollen Sie mit mir sprechen?«
»Das habe ich doch soeben getan.«
»Wer war er? Der Polizist?«
Kostaki hüllte sich in Schweigen.
»Bedenken Sie, dass ich Ihnen helfen kann. Ich stehe in der Gunst des Premierministers.«
»Mir kann niemand
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