Die Vampire
so intelligent war wie zuvor, jedoch allenfalls halb so viel Interesse an ihr zeigte, so nahm sie diesen Wandel ohne Murren hin. Sie wusste um die besonderen Bedürfnisse ihrer Freier. Wie eine brave kleine Spionin warf sie einen bemerkenswert verstohlenen Blick auf den Sergeant und flüsterte Godalming zu: »Der is hier Stammgast. Danny Dravot.«
Obschon ihm der Name nichts bedeutete, verspürte er ein erregendes Kribbeln im Bauch. Seine Beute hatte ein Gesicht und einen Namen. Godalming hatte Dravot so gut wie im Sack.
»Ich dachte, ich kenne ihn aus der Armee«, sagte er.
»Soviel ich weiß, war er in Indien. Oder Afghanistan?«
»Ein Sergeant, möchte ich wetten.«
»So nennse’n manchmal.«
Marie Jeanette hörte aufmerksam zu. Sie fühlte sich womöglich wie das fünfte Rad am Wagen, während sie ihren saumseligen Liebhaber erwartete.
»Soll ich’n rüberholen?«, fragte Nell.
Godalming betrachtete Dravots rot funkelnde Augen. Obgleich sie scharfsinnig und verschlagen wirkten, schien er ihn nicht zu bemerken. »Nein«, antwortete er der Hure. »Ich habe ihn mit jemandem verwechselt.«
Dravot leerte seinen Humpen und verließ die Ten Bells.
Godalming wartete einen Augenblick, bis auch er sich erhob und die beiden Huren ihrem Schicksal überließ. Sie wären gewiss verwirrt, würden sich früher oder später jedoch dem nächsten Kunden zuwenden. Huren stellten keinerlei Bedrohung dar.
»He, wo willste’n hin?«, protestierte Nell.
Den Betrunkenen vorspielend, schwankte er von dannen.
»Komischer Kauz«, meinte Nell zu Marie Jeanette.
Gerade als er die Tür erreicht hatte, wurde sie aufgezogen. Godalming stieß den Neuankömmling beiseite und schlüpfte auf die Straße hinaus. Dravot marschierte mit flinken Schritten davon, zum Alten Jago hin. Godalming wollte soeben die Verfolgung aufnehmen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte.
»Art?«
… ausgerechnet ihm, ausgerechnet Jack Seward musste er begegnen! Der Doktor hatte sich sehr verändert. Obgleich warmen Blutes, wirkte er zehn Jahre älter mit seinem verwitterten Gesicht, dem grausträhnigen Haar und der blassen Haut. Seine Kleider waren einst vornehm gewesen, doch fehlten unterdessen ein paar Knöpfe, und die Schmutzflecke machten sie nicht eben besser.
»Um Gottes willen, Art, was …?«
Dravot blieb stehen und begann ein Gespräch mit einem Messerschleifer. Godalming dankte der göttlichen Vorsehung und überlegte, wie er seinen lästigen alten Freund so schnell wie möglich wieder loswerden könnte.
»Sie sehen …« Außerstande, einen Satz zu Ende zu bringen, schüttelte Seward den Kopf und grinste. »Mir fehlen die Worte.«
Godalming erkannte sofort, dass Seward nicht bei Sinnen war. Als er ihn zuletzt gesehen hatte - in Purfleet, wie er als warmblütiger Narr Dracula keck herausgefordert und schließlich um sein Leben hatte fliehen müssen, während seine Gefährten zurückblieben, sich wider den Grafen zu behaupten -, war Seward
zwar nervös, doch durchaus bei Verstand gewesen. Nun war er ein gebrochener Mann, der nicht mehr richtig tickte, wie eine Uhr, die ganze Stunden übersprang und bisweilen für einige Minuten rückwärts lief.
Dravot war in seine Unterhaltung mit dem Messerschleifer vertieft. Der Mann gehörte gewiss zu den Verschwörern.
»Sie sind ein Vampir!«, rief Seward aus.
»Offensichtlich.«
»Wie er. Wie Lucy.«
Godalming musste an Lucys Schreie denken, als er den Pflock in ihren Leib getrieben hatte. An das grausige Knirschen des Nackenknochens, während ihr Van Helsing und Seward den mit Knoblauch gefüllten Kopf absägten. Sein alter Zorn kehrte zurück. »Nein, nicht wie Lucy.«
Dravot setzte seinen Weg fort. Godalming schob sich zögernd an Seward vorbei. Wenn er sich ihm im Laufschritt näherte, würde der Sergeant bemerken, dass man ihn verfolgte, und die nötigen Maßnahmen ergreifen, sich seinem Jäger zu entziehen. Ohne Seward noch eines Blickes zu würdigen, setzte er sich in Bewegung. Obgleich er tat, als schlendere er dahin, schlug er einen gemessenen Gang an, den Blick fest auf Dravot geheftet. In einem Nu hatte der Doktor ihn eingeholt und trippelte jetzt neben ihm über die Straße, wobei er spitze Schreie ausstieß, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wie ein zudringlicher Bettelmönch. Hinter ihnen war noch jemand aus den Ten Bells gekommen und rief nach Seward. Es war Marie Jeanette. Seward hatte seit ihrer letzten Begegnung wahrhaftig seine Gewohnheiten
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