Die Vampire
der Aufführung verzichten müssen. Der blättrigen Tapete und dem schwachen Modergeruch nach zu urteilen, würde der Sergeant nicht allzu viel verpassen.
Winthrop öffnete die Tür und betrat die Loge. Ein Mann saß in einem bequemen Sessel und paffte an einer Zigarre.
»Edwin! Pünktlich auf die Minute. Nehmen Sie Platz.«
Sie tauschten einen festen Händedruck, und Winthrop setzte sich. Charles Beauregard hatte volles weißes Haar und einen gestutzten grauen Schnurrbart. Sein Gesicht war faltenlos, und er wirkte hellwach und agil. Soviel Winthrop wusste, hatte Beauregard sich während der Zeit des Schreckens ausgezeichnet und einmal sogar die Ritterwürde abgelehnt.
Jenseits des Balkons begaben sich die murmelnden Zuschauer eilig auf ihre Plätze. Ein Pianist versuchte einem altersschwachen Instrument wohlklingende Laute zu entlocken.
Beauregard offerierte ihm eine Zigarre, doch Winthrop rauchte lieber seine eigene Marke. Er zündete sich eine Zigarette an und löschte die Streichholzflamme.
»Ich habe Ihren Bericht gelesen«, sagte Beauregard. »Schlimme Geschichte, neulich nachts. Sie trifft keine Schuld.«
»Ich habe Albright ausgesucht und ihn in den Tod geschickt.«
»Und ich habe Sie ausgesucht, wie auch mich jemand ausgesucht hat. Ich habe mir Albrights Akte angesehen, und ich muss sagen, Sie hätten keine bessere Wahl treffen können.«
Ein geflügelter Schatten flatterte an Winthrops geistigem Auge vorüber.
»Die Deutschen haben den Sieg Manfred von Richthofen zuerkannt«, sagte Beauregard. »Wenn ein Flieger des Geschwaders Condor gegen den Roten Baron eine Chance hatte, dann war es Captain Albright.«
Demnach handelte es sich bei dem geheimnisvollen Schatten also um den Roten Baron höchstpersönlich. Winthrop überlegte, was für eine Mühle Richthofen wohl flog. Ein neues, tödliches Modell.
»Das deutsche Oberkommando stellt seine Mordbuben in der Presse groß heraus. Wir besitzen keineswegs das Monopol auf säbelrasselnden Chauvinismus. Wenn zwanzig Fokker ein alliiertes Flugzeug abschießen, wird das Verdienst in aller Regel denen zugesprochen, die in der Publikumsgunst am höchsten stehen.«
»Es war nur eine Maschine mit Albright am Himmel.«
»Ich habe nicht behauptet, Richthofen sei ein Engel.«
Eine Untersuchung hatte ergeben, dass Albright völlig ausgetrocknet war. Thorndyke, der Spezialist, der die Autopsie vorgenommen hatte, war zu dem Schluss gelangt, der Leichnam sei nicht nur seines Blutes, sondern jeglicher Flüssigkeit beraubt worden.
»Captain Albright wurde aus seiner SE5a gezerrt und in der Luft getötet. So etwas habe ich noch nie erlebt.«
»Es geschieht nichts Neues unter dem Mond, mein lieber Edwin. Nicht einmal in diesem modernen Mörderspiel.«
Das Saallicht erlosch, und der Pianist hieb in die Tasten und
schändete eine Melodie aus Schwanensee. Der Vorhang ging auf. Abgesehen von einem Rohrstuhl und einem offenen Schiffskoffer war die Bühne leer.
Eine Vampirfrau betrat die Szene, der durchsichtige Umhang, der in Falten über ihr Trikot fiel, gemahnte an die Schwingen einer Motte. Sie war die Isolde von den Plakaten. Ihr Gesicht war streng, wenig anziehend. An Wangen und Schläfen traten die Schädelknochen hervor. Die Fangzähne, die ihr aus dem Mund ragten, schnitten tiefe Kerben in Kinn und Unterlippe.
Isolde schritt zu den Klängen der Musik auf der winzigen Bühne auf und ab. Das Publikum war mucksmäuschenstill.
»Unser Interesse am Château du Malinbois wächst von Tag zu Tag«, sagte Beauregard mit einem Seitenblick auf Isolde. »Seltsame Geschichten sind im Umlauf.«
Mit schwarzen Krallen teilte Isolde ihr langes, glattes Haar. Ihr Hals war schrecklich dünn, die Adern waren deutlich zu erkennen.
»Sämtliche Piloten kannten das Schloss«, sagte Winthrop. »Sie sind von Richthofen geradezu besessen. Er ist ihr ärgster Feind.«
»Über siebzig Siege.«
»Sein Tod wäre für uns alle eine Erleichterung.«
»Seltsam: Ein Soldat, der die Abzugsleine einer Haubitze zieht oder ein Maschinengewehr bedient, tötet in wenigen Sekunden oftmals genauso viele Gegner wie unser Roter Baron während des gesamten Krieges. Und doch erscheint nur der Flieger in der Presse. Rittmeister Manfred Freiherr von Richthofen. Er hat den Pour le Mérite, den Blauen Max. Das Victoria-Kreuz der Hunnen. Und so viele geringere Ehrenzeichen, dass man sie kaum zählen kann.«
Isolde löste den Kragen ihres Umhangs und ließ ihn zu Boden gleiten. Sie war furchtbar dürr.
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