Die Vampire
Runde; ein zweiter notleidender Künstler versuchte, Karikaturen des Kaisers und des Grafen von Dracula unters Volk zu bringen; ein gutgläubiger Australier ließ sich für einen zehn Centimes teuren anis ganze zehn Francs abknöpfen; und es kam zu einer Messerstecherei zwischen einem untoten Apachen und einem einarmigen, warmblütigen Veteranen, der den Unversehrten wider Erwarten zur Strecke brachte. Dies war vermutlich das vielgerühmte vie parisienne; es erschien ihm reichlich albern. Ein Haufen ungezogener Kinder.
Als es dunkel war, beglich er seine Rechnung und bahnte sich einen Weg zwischen den dicht besetzten Tischen hindurch zum Ausgang des estaminet. Amerikaner, Neulinge im Krieg und in Europa, waren besonders reich vertreten. Da sie alles und jeden bestaunten und bestarrten, waren sie unter den Pariser Taschendieben überaus beliebt. James Gatz, ein »Lootenant«, den Winthrop flüchtig kannte, grüßte ihn mit einem schnarrenden »alter Knabe«. Winthrop eilte davon, bevor Gatz ihn einholen konnte; es war Nacht, er war im Dienst. Er winkte dem Amerikaner zum Abschied und hoffte, dass der junge Mann den Abend unversehrt an Herz, Hals und Börse überstehen würde.
An der Place Pigalle wurde er von Kindern umringt, die ihn um cadeaux angingen. Bei näherer Betrachtung erwiesen sich die meisten dieser Kreaturen als Vampire, vermutlich älter als er. Ein goldhaariger Knabe krümmte seine Finger zu Klauen und klammerte sich an Winthrops Rock. Das seelenalte Kind versuchte ihn gurrend und fauchend zu hypnotisieren.
Sergeant Dravot, Winthrops Schatten, löste sich aus einem finsteren Winkel, befreite ihn von dem lästigen Schmarotzer und schleuderte ihn zu seinen Kameraden zurück. Die verwahrlosten Kinder liefen davon und umschwärmten die Beine erschrockener Soldaten und ihrer Liebchen.
Zum Dank nickte er Dravot zu und überprüfte die Knöpfe an
seinem Rock. Noch immer spürte er die Fingerspitzen des wilden Knaben auf seiner Brust. Der Sergeant verschwand wieder in der Menge; notfalls hätte er selbst Fantomas das Lebenslicht ausgeblasen. Obgleich es ihn mit Trost erfüllte, einen Schutzengel zu haben, ärgerte es Winthrop, dass man ihm nicht zutraute, seine Geschäfte allein zu erledigen. Dravot hatte bisweilen etwas Gouvernantenhaftes.
Scheinbar ziellos mischte er sich unter das Theaterpublikum. Das Grand Guignol brachte André de Lordes berüchtigtes Maldurêve, das Théâtre des Vampires hingegen spielte Offenbachs Operette La morte amoureuse mit dem berühmten Cancan »Clarimonde«. Im Robert-Houdin bot der warmblütige Illusionist Georges Méliès sensationelle Taschenspielereien dar, von denen er behauptete, nicht einmal ein Vampir mit seinen übernatürlichen Kräften könne dergleichen vollbringen. In einer der zahlreichen Aufführungen rein weiblicher Ensembles, die gegenwärtig die Pariser Bühnen zierten, gab die Bernhardt ihren blutigen Macbeth. Da die meisten Mimen in den Krieg gezogen waren, verhielt es sich genau umgekehrt wie zu Shakespeares Zeiten, und viele Männerrollen wurden von Frauen en travestie gespielt. Falls der Krieg jemals ein Ende fand, würde eine zweite Revolution vonnöten sein, um die göttliche Sarah in einen Rock zurückzuzwingen.
Das in einer namenlosen Seitenstraße fernab der großen Häuser gelegene Théâtre Raoul Privache war weder prächtig noch berühmt. Vor Erhalt des mit »Diogenes« unterzeichneten Billets mit den Einzelheiten dieser Zusammenkunft hatte er noch nie von dem établissement gehört. Ein Plakat zeigte eine hagere Frau mit großen Augen in einem knapp sitzenden Trikot. Die Ankündigung lautete schlicht: Isolde - Les frissons des vampires. Eine kleine Schar von Fanatikern forderte wütend Einlass. Sie waren fast ausschließlich männlichen Geschlechts, trugen größtenteils Uniform
und boten denselben gierigen, hohläugigen Anblick wie die Frau auf dem Plakat.
Winthrop gesellte sich unter das ins Foyer strömende Publikum und hielt nach Dravot Ausschau. Mitunter glich es einem Spiel, den Sergeant ausfindig zu machen. Obgleich er breitschultrig war und die meisten Menschen um Haupteslänge überragte, bereitete es dem Vampir keine allzu große Mühe, sich zu tarnen, da er die seltene Fähigkeit besaß, sich völlig an seine Umgebung anzupassen.
Als Winthrop dem caissier seinen Namen nannte, führte der ihn einen schmalen, dunklen Korridor hinab zu einer privaten Loge. Dravot folgte ihm und ging an der Tür in Stellung. Er würde auf den Genuss
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