Die Vampire
Lebensbeichte nennen. Eine Frau, die heute Morgen erschossen wurde, hat mir ihre Geschichte erzählt, und ich habe mein Möglichstes getan, sie in ihren Worten wiederzugeben. Sich genauestens einzuprägen, was die Leute sagen, ist eine Kunst, in der Sie sich beizeiten üben sollten. Häufig werden Sie feststellen, dass sie Ihnen Dinge verraten haben, von denen sie selbst nichts wussten.«
Winthrop schob sich den Umschlag in die Tasche. In der Ferne klangen Brandglocken. Die Reichweite des französischen Flugabwehrfeuers war zu gering, um dem Luftschiff etwas anhaben zu können. Der Zeppelin gewann an Höhe und verschwand in den Wolken. Eine Angriffsformation bestand für gewöhnlich aus fünf oder sechs Schiffen. Wenn der Hunne etwas Bestimmtes zerstören wollte, schickte er einen seiner großen Gotha-Langstreckenbomber.
»Wie gern würde ich eines dieser Biester in Flammen aufgehen sehen«, meinte Winthrop.
Beauregard richtete den Blick gen Himmel, und Schneeflocken benetzten wie Tränen seine Wimpern.
»Ich bin müde und muss gehen. Lesen Sie Madame Zelles Geständnis so aufmerksam wie irgend möglich. Vielleicht entdecken Sie etwas, das mir entgangen ist.«
Der Alte wandte sich um und marschierte davon, sein Stock klapperte über das Pflaster. Eine Horde betrunkener Amerikaner machte ihm höflich Platz. Zu seiner Zeit hatte Charles Beauregard gewiss eine stattliche Figur abgegeben. Auch jetzt noch war er der bei weitem beeindruckendste Mann im Dienst des Königs, dem Winthrop je begegnet war.
Winthrop hielt nach Dravot Ausschau und hatte ihn sogleich entdeckt. Der Sergeant stand regungslos im Schatten eines Baldachins. Es bereitete ihm von Mal zu Mal weniger Schwierigkeiten, Dravot ausfindig zu machen. Allmählich hatte er den Bogen heraus.
10
In gehobenen Kreisen
T rotz der prachtvoll bemalten Decken und lederbezogenen Chaiselongues war auch dies nichts weiter als ein Wartesaal. Er würde den Rest seines Lebens in derlei Räumlichkeiten verbringen, in der Hoffnung, gleichgültige Würdenträger mögen ihre geschätzten Tätigkeiten unterbrechen und sich Edgar Poes Belangen widmen. Aus seiner Zeit bei der Armee und in West Point war er mit der Parole »Gut Ding will Weile haben« wohlvertraut. Der Welt größte Militärmacht hatte dieses Diktum im Staatsrecht verankert. Prag war nichts weiter als ein Lehngut Berlins, die Hauptstadt der Wartezimmer, die metropolis der Pflichtvergessenheit. In Böhmen war Poe nur einer unter vielen gewesen, ein unscheinbares Gesicht in der Menge. Hier war er ein kleiner Schatten in einer Welt der Finsternis.
Die Halle wimmelte von Männern, deren Aufmachung auf Einfluss und Ansehen schließen ließ. Mit den befiederten Helmen, goldenen Quasten, schimmernden Schulterstücken, polierten Knöpfen, funkelnden Orden, weißen Umhängen, gewichsten Stiefeln, brokatbesetzten Westen und gestreiften Hosen, die sich vor Poes Augen tummelten, hätte man das komplette Ensemble einer komischen Oper ausstaffieren können. Trotzdem durchmaßen
die Bittsteller gereizt den Saal oder sanken müde in sich zusammen und demonstrierten Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit. Poe fiel unter letztere, Ewers unter erstere Kategorie. Er lief auf und ab wie ein Wachposten, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, der Hals so steif, als habe er einen Ladestock verschluckt.
Sie hatten eine Unterredung mit Dr. Mabuse, dem Leiter des Kriegspresseamtes. Obgleich es auf Mitternacht zuging, herrschte im ganzen Haus rege Betriebsamkeit. Poe hatte bislang nichts weiter herausbekommen, als dass man ihn bitten würde, ein Buch zu schreiben. Er hatte vorsorglich verschwiegen, dass ihm in den vergangenen drei Jahren nicht einmal ein humoristisches Couplet gelungen war.
Hauptleute und Unterführer umklammerten Aktenbündel, in der Hoffnung, die schlechten Nachrichten, die sie im Gepäck hatten, so schnell wie möglich loszuwerden. Die unendlich lange Wartezeit machte die Rangunterschiede zwischen Oberst, General und Feldmarschall vergessen.
Bisweilen schoss ein Schreiber mit einem zottigen Haarnest auf dem Kopf aus einer winzigen Tür wie aus einer Kuckucksuhr und rief einen Namen auf.
»Von Bayern«, bellte er. »Hauptmann Gregor von Bayern.«
Ein Ältester in einer schmucklosen, aber adretten Uniform erhob sich, als er seinen Namen hörte, und wurde aus dem Saal geleitet. Ewers’ neidischer Blick bohrte sich in von Bayerns Rücken, als dieser forschen Schrittes hinter einer Flügeltür verschwand, an der ein
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