Die Vampire
Zorns war er selbstgefällig und blasiert wie immer.
»Sie sind wie ich, Poe. In uns wütet ein unstillbares Verlangen, aus dem wir unsere schöpferische Kraft gewinnen.«
Das Kind stöhnte, während es aus den Tiefen des Schlafes an die Oberfläche des Bewusstseins trieb.
»Sie und ich haben nichts gemein«, erwiderte Poe ungerührt. Ewers verstieß diesen Gedanken und versuchte sich zu konzentrieren. Er war noch etwas wacklig auf den Beinen. Gigis Blut war schwer und satt. Auch Poe bestürmten bislang ungekannte Gefühle, eine gefährliche Heiterkeit, gepaart mit der Angst vor einem gähnenden Abgrund des Grauens. Scharlachrote Funken tanzten an den Rändern seines Blickfelds.
»Wir werden im Château erwartet«, insistierte Ewers. »Wir müssen schnellstens ein Fahrzeug requirieren.«
Poe ließ Gigi zu Boden sinken. Sie rollte sich zusammen wie eine Katze. Er brachte ihren Kragen in Ordnung. Ewers war so stürmisch zu Werke gegangen, dass sich ihr Hemd und ihre Kinderschürze nicht mehr knöpfen ließen, doch Poe sorgte dafür, dass sie züchtig bedeckt war.
»Wir stehen in der Schuld dieses Kindes, Ewers.«
Ewers fischte aufgebracht in seiner Westentasche und warf eine Münze aufs Pflaster. Poe hob sie auf und schob sie dem Mädchen in die Hand. Im Halbschlaf schloss sie die Finger um den Schatz.
Sie überließen Gigi ihrem Schicksal und kehrten zum Bahnhof zurück. Vor dem Eingang wartete ein Wagen, der Fahrer saß hinter dem Lenkrad, und ein Offizier hielt sich bereit. Als er Poe und Ewers erblickte, schlug er die Hacken zusammen und salutierte schneidig.
»Ich bin Oberst Theo von Kretschmar-Schuldorff. Es ist mir eine außerordentliche Ehre, den berühmten Schriftsteller Mr. Edgar Allan Poe kennenzulernen.«
Der Offizier sprach akzentfrei Englisch. Ein scharfsinniger Neugeborener.
»Nun, er steht vor Ihnen«, sagte Ewers auf Deutsch.
Poe schüttelte dem Offizier die Hand. Kretschmar-Schuldorff ließ den Blick zur Seite schnellen, um die Neuankömmlinge in Augenschein zu nehmen. Poe hatte sich mit einem Taschentuch gesäubert, doch Ewers war über und über mit geronnenem Blut befleckt. Der Offizier hatte sich bereits eine Meinung gebildet, behielt sie jedoch pflichtgemäß für sich.
Ewers stürmte davon, um seine Koffer von dem zukünftigen Zuchtmeister zurückzufordern. Kretschmar-Schuldorff half Poe in den Wagen. Der Oberst brachte ihm dieselbe Ehrerbietung entgegen wie einer alten Dame, über deren grauenhaften Gestank man Stillschweigen bewahrt.
Die Wirkung von Gigis Blut war verflogen. Poes roter Durst
war gelöscht, und langsam kehrte die graue Wirklichkeit zurück. Das Donnern der Artilleriegeschütze und der Pesthauch des Todes waren überwältigend.
»Ich habe den Namen meines Stiefvaters abgelegt«, erklärte Poe dem Offizier, »und nenne mich nur noch Edgar Poe.«
Kretschmar-Schuldorff nahm sich vor, daran zu denken. Für ihn und seinesgleichen waren Namen und Dienstgrade ebenso wichtig wie Orden und Uniformen. Er war ein Ulane im Dienst der Luftwaffe. Viele tapfere Kavalleristen hatten in diesem Krieg das Ross gegen das Flugzeug eingetauscht.
Ewers kehrte mit seinem Lakaien zurück, jeder von ihnen schleifte einen Koffer hinter sich her. In den schwarzen Augen des Gefreiten spiegelte sich dumpfer Groll.
»Wir hatten schon geglaubt, Sie hätten uns vergessen«, sagte Ewers schroff. »Was hat Sie so lange aufgehalten?«
Oberst von Kretschmar-Schuldorff unterdrückte ein Achselzucken, doch seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Hanns Heinz Ewers machte sich den Deutschen nicht zum Freund.
»Der Krieg«, sagte er. Damit war alles erklärt.
16
Gebissene Kinder
D ie Wendung ›Gebissenes Kind scheut die Hauer‹ ist Ihnen offensichtlich unbekannt«, sagte Major Cundall.
»Unter den gegebenen Umständen hieße ›gebissen‹, dass wir auf etwas gestoßen sind.«
Cundall seufzte, doch sein Blut war in Wallung. Winthrop hatte
den Geschwaderkommandeur durchschaut. Hinter der Maske des Zynikers verbarg sich ein wilder Kämpfer. Cundall hatte sich DSO und Ordensspangen gewiss nicht durch beißende Geistreicheleien verdient.
»Der Diogenes-Club besteht also darauf, dass wir es ein zweites Mal mit Malinbois versuchen?«
»Sie haben es erfasst«, erklärte Winthrop.
Wie durch ein Wunder war es gelungen, Albrights zerbrochene Platten zu entwickeln. Obgleich gezackte weiße Linien und blinde Flecken die Fotografien verdunkelten, war das Schloss deutlich zu erkennen. Winthrop
Weitere Kostenlose Bücher