Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
Vom Netzwerk:
subversive Potenzial der hebräischen Rasse, dass das Edikt nicht nur in Kraft bleiben, sondern erheblich verschärft werden sollte.
    »In der deutschen Seele ist kein Platz für Schlendrian und Hudelei«, fuhr Ewers fort. »Unzulänglichkeit und Schwäche müssen mit Blut und Eisen ausgemerzt werden.«
    Sie standen am Bahnhof von Péronne bei Cappy an der Somme, nur wenige Meilen von den feindlichen Linien entfernt. In Berlin hatte Poe das Bombardement als leises Echo wahrgenommen. Je weiter sich der Zug dem Kriegsschauplatz genähert hatte, desto lauter war es geworden. Selbst Ewers hatte es noch vor der französischen Grenze gehört. Der Krach zerrte an Poes schwachen Nerven; wenn er sich zu lange in Frontnähe aufhielt, würde er vermutlich den Verstand verlieren.
    »Soll ich vielleicht zu Fuß gehen?«
    In Ewers’ Tirade war aus »wir« längst »ich« geworden. Man brauchte wahrhaftig kein Detektiv zu sein, um zu ermitteln, dass Ewers glaubte, er leite die Operation Château du Malinbois, und Edgar Poe sei nichts weiter als ein Schlachtenbummler. Warum hatte man, wenn er denn tatsächlich solch ein Großmeister der spitzen Feder war, nicht gleich Ewers angeworben, dieses wunderbare Buch zu schreiben?
    Im Gegensatz zu Poe, der sich mit einer kümmerlichen Leinentasche begnügte, reiste Ewers mit zwei schweren Koffern und war es nicht gewohnt, am Bahnhof einzutreffen, ohne eine Schar bunt herausgeputzter Träger aufzuscheuchen, die bereit waren, bis zum Ende seinen Zwecken zu genügen. Péronne befand sich ganz in der Hand des Militärs. Alle Franzosen, die hier als Wärter
ihren Dienst verrichtet hatten, waren entweder tot oder lagen ein paar Meilen weiter im Schützengraben und richteten ihre Gewehre auf die deutschen Linien.
    Die Lokomotive hatte eine neuerliche Ladung grau uniformierter Männer zum Altar des Krieges geführt und schnaubte wütend wie ein Feuerdrache. Der Schornstein der gewaltigen schwarzen Maschine hätte einem Raddampfer zur Ehre gereicht. Auf dem Langkessel prangte das goldene, mit Schlamm und Ruß befleckte Wappen Draculas.
    Schon bald nach dessen Ankunft hatte der Kaiser den Grafen zum Chef der Deutschen Reichsbahnen ernannt. Für Fahrplanabweichungen von über fünf Minuten gab es drei Hiebe mit einer glühenden Schwertklinge auf den bloßen Rücken. Machte sich ein ruchloser Maschinist eines weiteren Vergehens schuldig, so wurde er bei lebendigem Leib in seinen Kessel geworfen. Die weise Voraussicht des Grafen machte sich schon in den ersten Kriegstagen bezahlt: Elftausend Züge wurden aus dem Zivilbetrieb entfernt und verbrachten mehrere Millionen Reservisten in Rekrutendepots und von dort aus weiter an die Front. Der unter der Schirmherrschaft des Grafen entworfene Schlieffen-Plan war keine Feldzugsstrategie im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts, sondern vielmehr ein gigantischer Eisenbahnfahrplan.
    »He«, rief Ewers, »mein Gepäck!«
    Der Zug machte sich zur Weiterfahrt bereit, und die riesigen Räder fingen an zu mahlen. Ewers rannte auf und ab, seine Rockschöße flatterten im siedend heißen Dampf. Aus einer Waggontür flogen messingbeschlagene Koffer auf den Bahnsteig. Es ging doch nichts über gute deutsche Wertarbeit. Die stabilen Kisten bogen und verformten sich, brachen aber nicht entzwei. Ewers schrie dem abfahrenden Zug wüste Drohungen hinterher: Er habe Namen und Dienstnummern notiert und werde für prompte Entlassung und Bestrafung sorgen.

    Ein übler Gestank hing in der Luft. Poe kannte ihn noch aus seinem letzten Krieg. Dem Krieg um die Unabhängigkeit der Südstaaten. Dem Krieg, den sie verloren hatten. Der Geruch stach ihm noch immer in die Nase. Schlamm, Schießpulver, menschliche Exkremente, Feuer und Blut. Zwar waren zwei neue Ingredienzen beigemischt, Petroleum und Kordit, doch der eigentliche Gestank war an der Somme derselbe wie am Antietam. Einen Augenblick lang war er überwältigt. Der Tod drängte sich in sein Gehirn, eine schwarze Flagge legte sich um seinen Kopf, blendete, erstickte, würgte ihn.
    »Was stehen Sie denn da herum?«, bellte Ewers. »Sie sehen aus wie eine Vogelscheuche.«
    Poe spürte nichts. Das ließ tief blicken.
    »Pah«, stieß Ewers verächtlich hervor und machte eine wegwerfende Handbewegung.
    Poe beruhigte sich. Er würde bald neue Nahrung brauchen. Wie immer, wenn er am Rande von Hunger und Erschöpfung stand, waren seine Sinne bis zum Äußersten geschärft. Wer zu viel wahrnimmt, wird verrückt.
    Es war ein kleines Wunder,

Weitere Kostenlose Bücher