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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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dass kein Wagen auf sie wartete. Jenseits des geschlossenen Fahrkartenschalters und des ausgebombten Wartesaals herrschte militärisches Chaos. In die Quartiere oder an die Front einrückende Soldaten wurden in Divisionen eingeteilt und kletterten auf Karren und Laster, die sie ins Kampfgebiet kutschierten. Unteroffiziere brüllten wie alle Unteroffiziere seit Anbeginn der Welt. Die Männer setzten sich in Bewegung, ein Knäuel aus Kluften und Gewehren.
    Widerwillig entließ Ewers seine Koffer in die Obhut eines glutäugigen kleinen Gefreiten mit hauchdünnem Schnurrbart und steifarmigem Gruß. Poe erkannte auf den ersten Blick, dass der Mann das Zeug zum Zuchtmeister und Leuteschinder hatte. Sie traten auf den Bahnhofsvorplatz.

    Die Wand des Fahrkartenschalters war in Brusthöhe mit Einschusslöchern gespickt. Daneben türmten sich grob behauene Holzsärge, hoch wie ein Telegrafenmast. Am Fuß des Stapels lag eine offene Totenkiste, die fast bis zum Rand mit jungfräulichem Schnee gefüllt war, als erwartete sie einen Eskimovampir, der auf einer Scholle seines Heimateises schlief. Péronne war mehrmals heftig bombardiert worden, und nur wenige Gebäude waren unversehrt. Leere Fenster, löchrige Dächer, rußgeschwärzte Türen, eingestürzte Schornsteine.
    »Sie da«, herrschte Ewers einen Unteroffizier an, »wo geht es zum Château du Malinbois?«
    Als er den Namen hörte, zuckte der Unteroffizier, ein stämmiger, schnauzbärtiger Warmblüter, erschrocken zusammen und schüttelte leise murmelnd den Kopf.
    »Sie sollten lieber nicht zum Schloss hinausfahren, Sir«, sagte er.
    »Im Gegenteil. Wir sind im Auftrag des Kaisers unterwegs.«
    Ewers war erbost, Poe hingegen zeigte sich erstaunt über die Furcht und den Abscheu des Unteroffiziers. Malinbois stand offenbar in keinem guten Ruf.
    »Auf dem Schloss geht es nicht mit rechten Dingen zu«, erklärte der Unteroffizier. »Es ist von toten Kreaturen bevölkert. Kreaturen, die man am besten einmauern und vergessen sollte.«
    Knurrend entblößte Ewers seine Hauer. Die Schaustellung des Deutschen ließ den Soldaten kalt. Im Château erwartete sie demnach weitaus Schlimmeres. Der Unteroffizier trottete davon und ließ Ewers schnaubend wie eine Lokomotive zurück.
    »Abergläubischer Bauer«, stieß Ewers verächtlich hervor.
    Poes Fangzähne schmerzten, und sein Herz stand in Flammen. Er brauchte dringend Nahrung. Ewers hatte von Ausschweifung und Schwelgerei auf Malinbois geschwärmt, doch das sagenhafte Schloss schien in immer weitere Ferne zu rücken. Amtliche Plakate
warnten vor Krankheit und Verbrüderung. Es war bei Strafe verboten, das Blut französischer Zivilisten zu trinken. Ebenso gut hätte man verbieten können, französische Luft zu atmen.
    Unter einer Laterne stand ein Mädchen von elf oder zwölf Jahren und beobachtete die Soldaten. Sie trug eine saubere Kinderschürze, und ihre schneeweiße Haut schimmerte im trüben Licht. Sie war warmen Blutes. Poe hörte ihren Herzschlag, hörte noch das leiseste Rascheln ihrer Kleider. Trotz des üblen Kriegsgestanks roch er den süßen Duft ihres Atems.
    Sie blickte ihn aus alten Augen an. Einen Lidschlag lang war sie Virginia. Sie alle waren wie Virginia, ungeachtet ihrer Augenfarbe oder Frisur. Sie alle umwehte ein Hauch von Virginia. Sie schien Poe magisch anzuziehen, quer über die zerbombte Straße hinweg. Schon herrschte Einverständnis zwischen ihnen.
    »Herr Poe«, rief Ewers gereizt und wie aus weiter Ferne.
    Als er die Lichtinsel erreicht hatte, blieb Poe zögernd stehen. Im Gesicht des Mädchens loderte das Feuer des Lebens. Er fragte sich, ob er sie würde berühren können, ohne sich die Finger zu verbrennen. Die Vorsicht zügelte seine Begierde. Sie war nicht Virginia, sondern eine geübte französische Kokette. Er sah den Schorf an ihrem Hals, eine Reihe verheilter Bisswunden, die sich von unterhalb ihres winzigen Ohrs bis zu ihrem Kragen zog. Ihr Lächeln entblößte schlechte Zähne.
    Ewers hatte Poe eingeholt und verlieh seinem Unmut wortreich Ausdruck, ging jedoch nicht dazwischen. Er wusste, welche Not Poe litt.
    »Wenn es denn sein muss«, sagte Ewers. »Aber machen Sie schnell. Wir werden im Château erwartet.«
    Poe stellte sich vor, Ewers befände sich in einem anderen Land. Seine Stimme war schwach, der Herzschlag des Mädchens laut. Mit routinierter Lässigkeit nahm sie seine Hand und zog ihn an der Laterne vorbei in eine Seitengasse.

    »Auf dieses Delikt steht eine hohe Strafe«, klagte

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