Die Vampire
Schloss keinen Gefallen finden.«
Durchs Fenster sah Poe die Umrisse hoher, zerschossener Bäume am Straßenrand. Die Landschaft war unwirtlich und trostlos. Sie verströmte eine tausendjährige Atmosphäre der Einsamkeit und Ödnis, die durch die Zerstörung der vergangenen Jahre noch verstärkt wurde.
»In der Nähe des Schlosses liegt ein See«, sagte Kretschmar-Schuldorff, »der allerdings in nichts dem Pfuhl von Usher ähnelt. Ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, dass unser Quartier einstürzen und uns in stinkenden Fluten ertränken wird.«
»Welch ein erhebender Gedanke«, kommentierte Ewers, doch sein Sarkasmus wirkte aufgesetzt.
»Als Geheimdienstoffizier bin ich zu erhebenden Gedanken geradezu verpflichtet. Schließlich kämpfen wir zuallererst für die Moral.«
Ewers sah aus, als habe seine Moral soeben ihren Tiefpunkt erreicht. Poe verspürte, gegen seinen Willen, Mitleid für den Deutschen. Er fragte sich, ob seine relative Heiterkeit vom Lebenssaft des warmblütigen Mädchens herrühren mochte, der seinen untoten Leib durchströmte.
»Geben Sie gut acht, Herr Poe. Hinter der nächsten Ecke kommt das Château in Sicht.«
Der Wagen legte sich in die Kurve. Poe sah das Schloss mit dem Mond dahinter: eine schwarze Silhouette mit Türmen und Zinnen. Bis auf ein Licht, hoch droben im höchsten Turm, war alles finster.
»Ist das für uns?«, erkundigte er sich.
Der Oberst schüttelte den Kopf. »Nein, für die Flieger.«
Sie fuhren am Ufer eines spiegelglatten Sees entlang. Daneben lag eine gerodete Fläche, die Poe für das Rollfeld hielt.
»Krachen sie mit ihren Flugzeugen denn nicht häufig gegen den Turm?«
Kretschmar-Schuldorffs Lachen klang melodisch. »Herr Poe, Sie werden außerordentlich überrascht sein.«
Er hatte die dunkle Ahnung, dass man ihm ein Geheimnis vorenthielt, und sein Durst war geweckt. Nur dass es ihn diesmal nicht nach Blut, sondern nach Wissen dürstete. Er hatte sich schon immer gern mit Rätseln, Chiffren und Mysterien beschäftigt. Zwar war er Journalist und Detektiv, doch ging er einem Geheimnis am liebsten in seiner Eigenschaft als Dichter auf den Grund. Hier waren seine deduktiven Fähigkeiten gefordert.
Ein Schloss, ein Geheimnis, Blut und Ehre. Alle Ingredienzen für eine fantastische Groteske oder Arabeske waren vorhanden.
»Sehen Sie da«, sagte Ewers und zeigte mit dem Finger.
Am dunklen Himmel waren noch dunklere Silhouetten zu erkennen, flügelschlagende Kreaturen, die sich fahl gegen den Mond abzeichneten.
»Fledermäuse?«
»Nein, Herr Poe. Keine Fledermäuse.«
Die Kreaturen flogen in Formation. Poe schätzte sie viel größer als gemeine Fledermäuse.
»Vampire?«
Kretschmar-Schuldorff nickte und steckte sich eine frische Zigarette an. Die Zündholzflamme spiegelte sich funkelnd in seinen amüsierten Augen.
Plötzlich wusste Poe, worum es sich bei diesen Wesen handelte.
»Gestaltwandler«, sagte er stolz. »Das sind Baron von Richthofens Flieger. Sie steuern keine Flugmaschinen. Sie lassen sich Flügel wachsen.«
»Genau.«
Ewers war erstaunt und wütend, weil man ihn nicht einweihen wollte. Poe erfasste ein Gefühl von Glück und Begeisterung.
»Es ist ein Wunder«, sagte er. »Sie haben sich in Engel verwandelt.«
»Engel der Hölle, vielleicht. Noch bevor der Krieg zu Ende ist, könnten sie zu gefallenen Engeln werden.«
Die Formation flog eine Schleife um das Licht im Turm. Sie mussten riesig sein, mindestens zwei- oder dreimal so groß wie ein Mensch. Langsam mit den Flügeln schlagend, schienen sie eher zu segeln denn zu fliegen. Poe hätte es nicht für möglich gehalten, doch das Wunder offenbarte sich vor seinen Augen.
»Und all das durch die Weiterentwicklung angeborener Vampireigenschaften?«
Kretschmar-Schuldorff nickte. »Tony Fokker hat der Natur ein wenig auf die Sprünge geholfen und eine Apparatur konstruiert, die ihre Lufttauglichkeit erhöht. Und Harnische für die MGs. Noch ist es keinem Vampir gelungen, sich Spandau-Zitzen wachsen zu lassen, um den Feind mit Blei zu säugen.«
»Noch?«
Kretschmar-Schuldorff zuckte die Achseln. Offensichtlich würde es früher oder später so weit sein.
Der erste Flieger vollführte eine Kehre, breitete die Schwingen aus wie Segel und setzte zum Anflug an. Er landete weich auf dem Turm und raffte die Schwingen wie einen Mantel um sich. Einer nach dem anderen gingen die Flieger nieder. Kleinere Gestalten umschwärmten die Vampire und bestätigten Poes Schätzung ihrer
Weitere Kostenlose Bücher