Die Vampire
der »imaginären Geschichtsschreibung« datierte mindestens bis zu Louis Geoffroys Napoléon et la Conquête du Monde zurück, einem Roman, den sie 1836 gelesen hatte und in dem Bonaparte bei Waterloo triumphierte. Aber es war Stoker gewesen, ein Angehöriger des öffentlichen Dienstes und späterer Theateragent und Revolutionär, der das »Was wäre, wenn die Geschichte einen anderen Verlauf genommen hätte« populär gemacht hatte. Seit Dracula hatten sich unzählige Romane mit dieser Frage beschäftigt: George Orwells Der große Bruder, die Schilderung eines grauen und grausigen Englands in einer Welt nach der Machtübernahme durch ein kommunistisches Regime im Jahre 1917, Sarbans Hörnerschall über einen Sieg der Nazis
im Zweiten Weltkrieg und Richard Mathesons Ich bin Legende, in dem Dracula beschließt, über den Atlantik zu ziehen, Amerika erobert und eine Welt erschafft, in der der letzte warmblütige Mensch von einer ganzen Bevölkerung aus Untoten umgeben ist. Das feinsinnigste dieser Werke war Anthony Powells Romanserie Ein Tanz zur Musik der Zeit. Geneviève hatte den vierten Band, Lady Molly’s Menagerie, schon zur Hälfte durchgehabt, bevor ihr aufgegangen war, welche Veränderung Powell in seinem fiktiven Werk vorgenommen hatte. Er hatte sich die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts vorgestellt, wie sie ohne Vampire hätte sein können.
Sie schlug die Ausgabe von Dracula auf. Sie war signiert, für Charles, von Kate. Wie es ihr wohl ging? Bei der Beerdigung war sie in einem schlimmen Zustand gewesen, aufgedunsen von zu viel Blut, ganz wirr vor Trauer.
Als sein Buch ungehindert hatte veröffentlicht werden können, war Stoker schon tot gewesen. Zwischen Kate und seiner Witwe Florence war es zum Streit gekommen. Diese Ausgabe, mit Kates nie wieder nachgedruckter Einleitung, war eine kostbare Rarität, aber sie war auch noch aus einem anderen Grunde von Bedeutung.
Geneviève beschloss, sie zu behalten. Charles hätte bestimmt nichts dagegen gehabt.
Das Buch fiel an einer Stelle auf. Eine längliche Karte und ein gefalteter Zettel steckten zwischen den Seiten. Bei der Karte handelte es sich um die Einladung zu Draculas Verlobungsfest in zwei Tagen. Der Zettel war ein Memo, das Charles in seinen letzten zwei Tagen geschrieben hatte, vielleicht an dem Tag vor seinem Tod.
Eine Allianz zwischen den Häusern Dracula und Vajda, durch eine Heirat noch gefestigt, stellt den Vampirältesten zum ersten
Mal in diesem Jahrhundert ein Banner zur Verfügung, unter dem sie sich sammeln können, was wahrscheinlich der Erringung politischer Macht dient. Schon jetzt befinden sich zahlreiche große europäische Vermögen in den Händen der Untoten. Wenn Dracula im Triumph nach Transsylvanien zurückkehrt, wird ein Reich wiederauferstehen. An Prinzessin Asa Vajda ist eine Tyrannin verlorengegangen, sie hat offenbar den Ehrgeiz, die Eva Perón der nosferatu zu werden. Der unbekannte Faktor in dieser Allianz ist wie immer Dracula selbst, Edwin. Nach reiflicher Überlegung würde ich sagen, dass unser Graf …
Das Memo war unvollendet. Es stand nichts darin, was Winthrop nicht schon wusste. Aber da es eindeutig für ihn bestimmt war, würde sie es weiterleiten. Er befand sich bereits wieder in London, aber Bond war immer noch in Rom und ließ sich aus lauter Dankbarkeit, dass er noch lebte, gewiss dazu bewegen, als Postbote zu fungieren.
Sie fragte sich, welche Überlegung Charles formuliert, aber nicht niedergeschrieben hatte.
Nachdenklich klopfte sie sich mit der Einladungskarte an die Zähne. Sollte sie wirklich dorthin gehen? Als Dracula sie das letzte Mal in einen Palast eingeladen hatte, zusammen mit Charles, war ein Reich untergegangen, und zwar unter reichlich Getöse, in Feuer und Blut. Diesmal dürfte es weniger spannend werden.
Ein Kleid hatte sie ja bereits. Tauglich für Beerdigungen und Verlobungsfeiern. Erst einmal getragen.
18
Fregene
S obald sie aus der Stadt heraus waren, ermunterte Kate ihn, den Ferrari von der Leine zu lassen. Die Fahrt dauerte nicht lang, aber hier waren die Straßen breiter, so dass Marcello Gas geben konnte. Kate wollte schnell fahren. Wind schlug ihr ins Gesicht, presste unsichtbare Finger auf ihre geschwollene Haut, stach ihr hinter der Brille in die offenen Augen.
Ihr Kopf wollte nicht klarer werden. Sie sagte Marcello, er solle noch schneller fahren. Stets der willfährige Sklave, gehorchte er. Schafe spritzten in alle Richtungen davon. Es war zum Schreien komisch.
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