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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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übergeben wollte. Unter den Dokumenten befand sich auch die Abschrift der phonographischen Tagebücher von Dr. Jack Seward, die den Zeitraum
von 1885 bis 1888 abdeckten. Es überlief sie eiskalt, wenn sie an die Entdeckung dieser Wachszylinder dachte, an die Hatz durch den Nebel zu einem winzigen Zimmer voller Totenblut. Die Seward-Papiere würden für Jahrhunderte weggeschlossen werden. Wegen der Präsenz der äußerst Langlebigen wurden Akten, die früher keine hundert Jahre unter Verschluss geblieben waren, nun vielleicht für immer verwahrt werden.
    Charles war ein penibler Mensch gewesen. Alles war geordnet. Sie brauchte die Papiere eigentlich gar nicht durchzugehen, aber sie waren das Letzte, was ihr von ihm geblieben war. Sie wollte etwas davon für sich behalten. Und sei es nur in der Erinnerung.
    Einige wenige Seiten, offensichtlich die Überreste eines buchlangen Manuskripts, enthielten bewegende Absätze über Pflicht und Opferbereitschaft, über die Notwendigkeit, seine individuelle Existenz in den Dienst der Menschheit zu stellen. Wären sie nicht auf Deutsch verfasst gewesen, hätte sie angenommen, dass das Manuskript von Charles handelte. Im Weiterlesen fand sie die Beschreibung eines Luftkampfes und schloss daraus, dass die Seiten aus einer von einem Ghostwriter verfassten Autobiografie von Manfred Freiherr von Richthofen stammten, dem vampirischen Fliegerass des Ersten Weltkriegs. Sie fragte sich, wer sie geschrieben hatte und warum die Seiten für Charles von Interesse gewesen waren. Winthrop war an der Vernichtung des sogenannten Roten Barons beteiligt gewesen, das wusste sie. Zweifelsohne würden die Archivare im Diogenes-Club wissen, in welches Puzzle diese wenigen Teile gehörten.
    Es gab noch viel mehr, darunter streng vertrauliches Material, das einen Gutteil der geheimen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts enthüllte. Sie fand Notizen in Charles’ Handschrift für die Rede von Eduard VIII., in der er seinen Verzicht auf den Thron erklärte. Dem war eine große Verfassungskrise vorangegangen. Seit dem Tod König Viktors 1922 hatte kein Vampir mehr
auf dem Thron Großbritanniens gesessen, aber Eduards Verlobte, Mrs. Wallis Simpson, hatte vorgehabt, dass sie sich beide verwandelten, um auf ewig über das Land zu herrschen. Offensichtlich war Charles es gewesen, der den König darüber informiert hatte, dass er im Falle seiner Vampirwerdung rechtlich gesehen tot sein und damit die Regelung zur Thronfolge greifen würde.
    Es war ein wichtiger Präzedenzfall für das Vereinte Königreich. In Fragen ererbter Positionen war die Vampirwerdung dem Tod gleichgestellt. Lord Ruthven, damals wie heute Premierminister, war gezwungen gewesen, auf seinen Titel zu verzichten und ihn zu großen Kosten von einem verarmten Nachkommen aus einer Nebenlinie zurückzuerwerben. Älteste, die sich »Graf« oder »Baron« nannten, wurden in Dover oder Heathrow in aller Ruhe mit »Monsieur« oder »Mister« angeredet. Eduard und Wallis, beide nosferatu, herrschten über ihre Ländereien in Bermuda, und eine Warmblütige saß auf dem Thron von Großbritannien.
    Sie hätte noch weitergelesen, weiter Geheimnisse durchforstet, aber ihr Appetit war gestillt. Jede Notiz von Charles, die sie fand, jeder Schmierzettel, den er aufgehoben hatte, war wie ein Spottbrief. Als wäre er ihr davongelaufen.
    Vor einer Woche war sie bereit gewesen, Penelope zu töten, um sie daran zu hindern, Charles den dunklen Kuss aufzuzwingen. Nun hätte sie sich am liebsten das Herz aus dem Leib gerissen, weil sie darin versagt hatte, selbst für Charles’ Verwandlung zu sorgen. Sie erkannte den Impuls als selbstsüchtig. Aber war es denn falsch zu wollen, dass jemand, den man liebte, ewig lebte?
    Charles hatte nicht sterben wollen. Aber er hatte den Tod akzeptiert.
    Hatte sie lange genug gelebt? Zur Zeit ihrer Geburt waren nur wenige Frauen dreißig geworden. Sie hingegen blickte auf eine lange, bewegte Vergangenheit zurück. Wie viel Zukunft konnte sie noch ertragen?

    Seit Sputnik wollten viele Kinder Raumfahrer werden, wenn sie groß waren. Wenn die Erde die nächsten hundert Jahre ohne nukleare Selbstopferung hinter sich brachte, dann bestand die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschheit sich über die Sterne ausbreitete. Vielleicht wäre das noch etwas für sie, eine Reise zu den Wundern des Jupiter und darüber hinaus. Sie hatte einen Artikel von Arthur C. Clarke im Time Magazine gelesen, in dem er darlegte, dass Vampire wie sie, die alt

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