Die Vampire
genug seien, um die nötige Stabilität zu besitzen, die ideale Besatzung für Fernraumflüge wären, weil sie weniger krisenanfällig waren und lange genug lebten, um Reisen zu unternehmen, die vielleicht mehrere Menschengenerationen dauerten. Er hatte sich sogar Lösungen für das Nährproblem einfallen lassen.
Sie musste lachen. Ihr Gedankengang hatte mit der Frage begonnen, ob sie Rom verlassen sollte, um ihren Erinnerungen zu entfliehen. Nun dachte sie ernsthaft darüber nach, das Sonnensystem zu verlassen. Wie würde sie wohl in einer dieser Dale-Arden-Kreationen auf den Witzseiten aussehen, mit einem Fischglas-Helm und einem durchsichtigen Trikot? Richtige Raumanzüge sahen weniger nach Harem aus.
Charles hatte sich selbst als Hundertjähriger noch für die Möglichkeiten des Raumflugs interessiert. Sie hatte auf seinem Schreibtisch einen Bericht des Leiters der British Rocket Society gefunden, der mit Charles’ handschriftlichen Anmerkungen versehen war. Die beiden Männer hatten darum gekämpft, dass das Mondprojekt auf wissenschaftlicher statt militärischer Basis betrieben wurde. Wie viele andere gute Projekte würden darunter leiden, dass ihnen Charles’ Scharfsinn und Einfluss nicht mehr zur Verfügung standen? Geneviève nahm sich vor, der BRS eine Spende zukommen zu lassen.
Seinen Rollstuhl zu benutzen, erschien ihr nicht richtig - vielleicht konnte sie ihn einem Krankenhaus oder Altersheim zukommen
lassen -, aber das bedeutete, dass sie auf einem Küchenstuhl kauern musste, wenn sie an seinem Schreibtisch arbeiten wollte, der die einzige brauchbare Tischfläche für die notwendige Durchsicht seiner Sachen darstellte. Von den langen Stunden taten ihr der Rücken und die Schultern weh.
Sie hatte Winthrop versprochen, das Material für den Diogenes-Club bis Ende der Woche eingepackt zu haben, damit es im Schutz eines Diplomatenpasses nach London verschifft werden konnte. Die Beauregard-Papiere brauchten Begleitschutz, aber ihr boshafter Vorschlag, dass Hamish Bond das übernehmen sollte, war höflich zurückgewiesen worden. Der Spion war auf der Beerdigung erschienen, hatte ihr jedoch nicht in die Augen gesehen.
Sie kletterte von dem Stuhl herunter und durchquerte das Arbeitszimmer, wobei sie um den Teppich herumging, auf dem Charles gestorben war. Bei der Regalwand blieb sie stehen. Charles hatte leidenschaftlich gern Anmerkungen in seine Bücher geschrieben, was darauf hinauslief, dass manche Exemplare auch besser mit zu seinen Papieren kamen. Seine Bibliothek hatte er nicht dem Club vermacht, sondern Winthrop persönlich. Sie konnte wohl davon ausgehen, dass Winthrop alles weitergab, was besser Teil der Papiere wurde.
Ein Buch stach hervor. Sie nahm es zur Hand. Dracula von Bram Stoker. Es war die erste offizielle Ausgabe von 1912. Mit einer Kurzbiografie des Autors und einer Einleitung durch niemand Geringeres als Miss Katharine Reed. Geneviève hatte den um 1897 entstandenen Roman zuerst in einer Untergrundausgabe gelesen, einer von vielen, die während der Zeit der Schrecken im Umlauf gewesen waren. Das Manuskript war aus dem Konzentrationslager in Sussex geschmuggelt worden, und Kate - damals eine Heldin des Untergrunds - hatte dafür gesorgt, dass auf den Druckerpressen der Pall Mall Gazette eine Ausgabe im Zeitungsformat
hergestellt werden konnte. Der Roman hatte während der harten Jahre nach Königin Viktorias Tod, als Dracula mit steigender Brutalität am Thron von Großbritannien festhielt und das Volk zunehmend rebellierte, zu einer Bündelung des Widerstands geführt.
Damals hatte Geneviève den Roman als merkwürdig empfunden. Stoker beschrieb eine Welt, in der Dracula nicht in Großbritannien die Macht übernahm, sondern von seinen Gegnern besiegt wurde, die er doch in Wirklichkeit ausgeschaltet hatte - Professor Van Helsing und seine Gefolgsleute. Da sie einiges von den wahren Hintergründen wusste, hatten seine Schilderungen von Mina Harker, Dr. Seward und Arthur Holmwood, wie sie hätten sein können, wenn sie in sich die Kraft zum Widerstand gefunden hätten, Geneviève tief bewegt. Aufgemacht als eine Sammlung von Dokumenten und Tagebüchern - manche authentisch, wie Jonathan Harkers Journal seiner Reise nach Transsylvanien und Mina Harkers Erinnerungen an Lucy Westenra -, hatte das Buch wie ein geschichtliches Werk wirken sollen, wie eine Schilderung von Ereignissen, die tatsächlich stattgefunden hatten, anstatt nur wünschenswert gewesen zu sein.
Der literarische Kniff
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