Die Vampire
eingebrannt. Sie nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. In der roten Dunkelheit trat das Kind hervor.
Für einen Moment sah sie wieder das traurige Gesicht im Wasser des Trevi-Brunnens. Das Bild, mit dem irgendetwas nicht stimmte. Sie war nahe daran zu begreifen, was.
Der Ball lag am Rand der Klippe. Sie stand auf und ging über die Auffahrt zu dem Streifen langen, feuchten Grases, der sanft abfiel, bis das Land schroff abbrach. Unterhalb der Wehrmauern ging es tief hinab. Wellen donnerten gegen den Fuß der Klippen, peitschten die Grundfesten, wuschen sie langsam aus.
Am Ende würde der Palazzo Otranto fallen wie Mr. Poes Haus Usher. Was nur gut war, hier wie dort.
Der rote Ball war in einem Strauch hängen geblieben, der sich direkt an die Kante klammerte. Kate beugte sich vor, um ihn zu bergen, und wurde im ungünstigsten Moment von Benommenheit erfasst, genau als ihr die Schaumwogen hundert Meter weiter unten ins Auge sprangen. Sie kamen bis zu ihr herauf und zogen sich wieder zurück, es musste eine Nebenwirkung des Schwindels sein.
Sie stürzte nicht ab.
Wohin war dieses kleine Mädchen gegangen?
Sie sah die Seitenmauer des Palastes entlang. Das Stück Grünland wurde schmaler, wo die Klippe weggebrochen war. Nach ein paar Metern vereinten sich Mauer und Klippe, ohne die kleinste Kante. Es gab keinen Weg um das Gebäude herum.
Plötzliche Schuldgefühle trafen sie ins Mark. Hatte sie das Mädchen erschreckt? So dass es abgestürzt war?
Kate setzte sich hin, ihre Füße baumelten über die Kante. Gischt traf sie wie Wellen von feinem Regen. Kälte sickerte in ihren
Geist, vertrieb den Nebel. Sie mochte die Salzwassersprenkel auf dem Gesicht.
Eine andere Kanone wurde abgeschossen.
Diesmal sah sie gerade nach unten, als der Blitz alles erleuchtete. Die dunkle Felsoberfläche bleichte einen Moment lang aus, und eine kleine Gestalt war zu sehen.
Stürzte sie ab, ruderte mit den Armen? Oder war sie still, und der Blitz ließ sie nur bewegt wirken?
Kate rief nach ihr.
»Kleines Mädchen. Ragazza.«
Ihre Stimme ging unter. Die Wellen rauschten wie Blut in ihren Ohren.
Sie wartete, aber der nächste Kanonenschuss wollte nicht kommen. Sie hatte Zeit, Angst zu bekommen. Die Kleine musste abgestürzt sein. Weil Kate sie verfolgt hatte oder weil die Kanone losgegangen war? Hatte sie ihren Ball holen wollen und das Gleichgewicht verloren und war auf einer Felsnase gelandet?
Offensichtlich spazierte die Kleine nicht nur zufällig durch Kates Leben. Sie war auf der Piazza di Trevi gewesen, als der scharlachrote Henker zugeschlagen hatte, und nun war sie hier im Palazzo Otranto, pünktlich zu Kates Auseinandersetzung mit der Prinzessin. Irgendwie war sie Kates Engel der Gewalt geworden.
Der Ball segelte von der Klippe aufs Meer hinaus.
Kate wusste, was sie zu tun hatte. Sie musste ihre Schuhe ausziehen. Sie würde sich die Strümpfe ruinieren und ihr teures Kleid. Aber für sie war das Fest ohnehin vorbei.
Sie stand oben auf der Klippe, die Arme ausgebreitet wie eine Turmspringerin, und schätzte den Wind und die Gischt ab. Nicht allzu stark, dem Himmel sei Dank. Sie kniete sich auf die Kante und beugte sich vor, bog sich nach unten über den Rand der Klippe, streckte sich nach einer Stelle zum Festhalten, die einen Meter tiefer lag.
Dann zog sie sich über die Kante, klammerte sich am Fels fest, spürte ihr Gewicht in den Schultern, den Hüften. Sie krabbelte bergab wie eine Eidechse, besorgt, dass ihre Brille hinunterfallen könnte und für immer verloren wäre. Ihre Ellbogen und Knie schabten über das Gestein, aber ihre Finger und Zehen fanden Halt.
Sie hing an der Felswand wie eine dicke Fliege, blickte hinab in die Dunkelheit. Wenn das Mädchen noch da war, konnte Kate es jedenfalls nicht sehen.
Langsam suchte sie sich im Zickzack ihren Weg nach unten. Ihr durchweichtes Kleid klebte an ihrem Rücken, ihrem Po. Manche Vampire konnten sich Flügel wachsen lassen und fliegen. Kate Reed musste krabbeln.
Wieder ein Kanonenschuss.
Kate sah das Mädchen, es schaute zu ihr herauf. Das kleine Gesicht war überraschend nahe, noch immer halb maskiert von diesem unnatürlich schönen Haar. Eine einzelne Träne hing in seinem unbedeckten Auge. Und es grinste wie die Edamer Katze.
Als der Blitz verschwand, kehrte die Dunkelheit zurück.
Kate wusste, was sie beim ersten Mal nicht richtig gesehen hatte. Den Mund, den nach unten gebogenen Halbmond des Leids. Sie hatte die auf dem Kopf stehende Spiegelung
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