Die Vampire
eines Lächelns gesehen. Der Anblick des scharlachroten Henkers, wie er Kernassy und Malenka tötete, hatte das Mädchen nicht schockiert, sondern mit diebischer Freude erfüllt.
In diesem unschuldigen Gesicht stand das Böse.
Kate streckte sich nach der Stelle, wo das Mädchen war, und griff ins Leere. Es hatte nicht geschrien. Es war nicht abgestürzt.
Sie machte einen Ruck nach vorn, die Hände in der Luft, rutschte tastend einen Meter hinab. Ihre Füße fanden Halt, dann baumelte sie. Im Fels war ein Loch. Keine Höhle, sondern ein von
Menschen geschaffener Einstieg. Sie gelangte mit den Händen um die behauenen Kanten des Zutritts und hielt sich fest.
Im Innern der Klippe rannte das kleine Mädchen.
23
Die Stunde, wenn Dracula kommt
S ie fand, dass sie nach Kate schauen sollte. Hier auf dem Fest hatte sie nichts verloren.
Einen Moment lang war Geneviève von Orson Welles abgelenkt. Er war so gewaltig. Sein Halstuch hätte den meisten Leuten als Tischtuch für einen Beistelltisch dienen können. Er holte aus jeder Tasche sämtlicher Jacken irgendetwas hervor. Vögel, Mäuse, Drinks, Münzen.
Wurde denn niemand dieses ganzen Spektakels überdrüssig? Eine Person schon, das wusste sie. Er. Prinz Dracula. Er war noch nicht hier. Aber er war unterwegs. Das veränderte die Atmosphäre des Festes. Kates Tänzchen mit Prinzessin Asa hatte die Abkühlung noch verstärkt. Das zeigte, wie ungewiss alles war.
Was würde Dracula tun, wenn er kam?
Es war ihm zuzutrauen, dass er die Türen versperren und den Palast niederbrennen ließ und dabei bis zuletzt aushielt, damit er seinen Gästen in die Hölle folgen konnte. Oder er erwies sich als großzügiger Gastgeber und entließ alle mit einem Meisterwerk der Renaissance als Andenken.
Sie dachte an das letzte Mal zurück. Damals, 1888, hatte sie neben Charles vor einem Thron inmitten des Schweinestalls gestanden, den Dracula aus dem Buckingham-Palast gemacht hatte, um sie herum Monstren und Opfer.
Der Prinz hatte sich seitdem einige Schrammen geholt.
Geneviève sah sich um. Von Welles abgesehen hatte sie alle anderen aus dem Blick verloren: Kate, Penelope, Asa, Bond, Kates journalistischen Begleiter, Penelopes Tom. Sie sah nur noch Partyvolk.
Die Musik veränderte sich. Ein Marsch wurde gespielt, irgendetwas Bombastisches, Prächtiges. Große Vorhänge teilten sich. Lakaien hielten sie zur Seite, wie Krankenschwestern während einer Herzoperation den Brustkorb eines Riesen aufhalten würden. Auf einem Podium standen zwei leere Throne. Einen erkannte Geneviève als aus dem Buckingham-Palast gestohlen. Es war Viktorias. Über den Löwen und das Einhorn waren die Wappen des Hauses Vajda genagelt worden. Der andere, höhere Stuhl war derb und mittelalterlich, ein gotischer Thron von kathedralenhaften Umrissen aus der Zeit der Herrschaft des Pfählers.
Blaue Feuersäulen wuchsen empor, drohten die Vorhänge zu entflammen. Trompeten wurden gehoben, eine Fanfare ertönte.
»Er steigt aus seiner Gruft«, sagte Welles. »Was für ein Effekt. Wie eine Mischung aus Iwan dem Schrecklichen und dem Zauberer von Oz.«
»An ihm ist ein Zauberer verlorengegangen, durchaus«, sagte sie.
Die blauen Flammen verdrehten sich spiralförmig und nahmen mit einem Puff die Gestalt von Drachenschwingen an.
»Genau diesen Effekt wollte ich für meinen Caesar.«
Warmblütige Monarchen bevorzugten Türme, die untoten schätzten Höhlen. Ein lebender König stieg vielleicht zu seinen Untertanen hinab, aber der Vampirkönig musste aus der Erde nach oben kommen.
Ein Windstoß kalter Grabesluft ließ die Feuerdrachen zittern und blähte die Vorhänge. Ein Teil des Bodens glitt zur Seite, und einige unbedeutende Gäste stürzten in den Abgrund.
Prinzessin Asa, die nun verschleiert war, schritt an den Rand der Grube und kniete nieder, berührte den Boden mit der Stirn. Sie war entschlossen, die Anmaßung wiedergutzumachen, die sie durch den Missbrauch des Namens Dracula an den Tag gelegt hatte.
»Es heißt, dies sei ihre erste Begegnung«, bemerkte Welles. »Heute Nacht wird Dracula das Gesicht seiner Braut schauen. Altmodisch, oder?«
Geneviève war nicht überrascht. Dies war schließlich eine dynastische Verbindung.
In den Tiefen des Palastes ertönte ein Rumpeln, ein Klirren gigantischer Eisenketten. Eine Plattform wurde durch die körperliche Anstrengung Dutzender Diener nach oben befördert. Ein Flattern des Vorhangs ließ Geneviève einen Blick auf schwitzende, freie Oberkörper
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