Die Vampire
getrunken hatte. Deshalb also litt sie an Halluzinationen. Die ganze Stadt schien vom Siechtum befallen.
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Seltsamer Ahnung Spiel
26. SEPTEMBER
D es Morgens herrscht in der Hall vollkommene Stille. Von Sonnenaufgang bis zur dereinst sogenannten Mittagszeit liegt Whitechapel in tiefem Schlummer. Die Neugeborenen eilen zu ihren mit Erde angefüllten Kisten. Die Warmblüter dieser Gegend waren dem Tag noch nie sehr wohlgesinnt. Ich gebe Morrison Anweisung, man möge mich unter keinen Umständen stören, und ziehe mich mit meiner scheinbaren Arbeit in diese Amtsstube zurück. Buchführung, erkläre ich ihm. Was übrigens keineswegs eine Lüge ist. Ich pflege eine alte Gewohnheit und führe Buch. Wie wir es damals alle taten. Jonathan Harker, Mina Harker, Van Helsing. Selbst Lucy schrieb lange Briefe in ihrer wunderschönen
Handschrift, trotz ihrer gräulichen Orthografie. Der Professor war allerdings rigide, was die Dokumente anbetraf. Geschichte schreiben immer nur die Sieger; Van Helsing hegte von Anfang an die Absicht, die Papiere mit Hilfe seines Freundes Stoker zu publizieren. Wie sein Rivale war er bestrebt, sich ein Denkmal zu setzen; ein Bericht über die erfolgreiche Behandlung eines wissenschaftlich verbürgten Falles von Vampirismus im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert hätte seinem Ruf neuen Glanz verliehen. Doch wie die Dinge stehen, hat der Prinzgemahl für die Auslöschung unserer Geschichte nachdrücklich Sorge getragen: Mein Tagebuch wurde in Purfleet ein Raub der Flammen, und Van Helsing gilt als zweiter Judas.
Damals war er noch nicht der Prinzgemahl, sondern hieß Graf Dracula. Er geruhte, unsere kleine Familie mit seiner Aufmerksamkeit zu beehren; einen Streich nach dem anderen führte er gegen uns, bis wir zerschmettert und zerstreut am Boden lagen. Ich besitze ungeordnete Notizen, Zeitungsausschnitte und Erinnerungen, die ich hier, hinter Schloss und Riegel, aufbewahre. Es scheint mir dringend geboten, die ursprünglichen Aufzeichnungen zu rekonstruieren - zu meiner etwaigen Rechtfertigung. Dieser Arbeit will ich mich in meinen stillen Stunden widmen.
Wer wollte sagen, womit alles seinen Anfang nahm? Mit Draculas Tod? Seiner Auferstehung? Dem Ersinnen seiner ungeheuren Intrigen gegen Großbritannien? Mit Harkers schrecklichen Erlebnissen auf Schloss Dracula? Dem Wrack der Demeter, wie es in Whitby an Land gespült wurde, ein toter Mann mit einem Tau ans Steuerrad gebunden? Oder vielleicht mit dem ersten Anblick Lucys durch den Grafen? Miss Lucy Westenra. Westenra. Ein Name, wie er einzig ist in seiner Art: Er bedeutet »Licht des Westens«. Ja, Lucy. Was mich betrifft, so nahm damit alles seinen Anfang. Mit Lucy Westenra. Lucy. Am 24. Mai 1885. Ich kann es kaum fassen, dass der Jack Seward jenes Morgens, neunundzwanzig
Jahre alt und soeben zum Leiter der Irrenanstalt von Purfleet ernannt, jemals existierte. Alles, was dem vorausging, erscheint mir nur mehr wie ein goldener Nebel, spärliche Fetzen der Erinnerung an Knabenabenteuer und medizinische Lehrbücher. Ich erfreute mich, wie man mir versicherte, einer überaus glänzenden Laufbahn: Ich forschte und studierte; ich reiste; ich hatte einflussreiche Freunde. Aber dann kam alles anders.
Ich bin fest überzeugt, dass ich mich erst nach meiner Abweisung eigentlich in Lucy verliebte. Ich war an jenem Punkt in meinem Leben angekommen, an dem ein Mann ernstlich erwägen sollte, eine eheliche Bindung einzugehen; unter all meinen Bekannten kam sie meinem Wunschbild am nächsten. Art stellte uns vor. Damals noch Arthur Holmwood, heute Lord Godalming. Zunächst hielt ich sie für oberflächlich, um nicht zu sagen, albern. Doch nach all den Tagen, die ich unter kreischenden Verrückten zugebracht hatte, empfand ich ihre schiere Albernheit als überaus anziehend. Die Irrungen und Wirrungen eines komplizierten Geistes - ich halte es immer noch für einen groben Irrtum, Wahnsinnige als einfache Geister abzutun - brachten mich dazu, die Aussicht auf ein Mädchen, das mir so offen und unverstellt erschien wie Lucy, als ideal zu erachten. An besagtem Tag wollte ich ihr meinen Antrag unterbreiten. Aus irgendeinem Grunde trug ich eine Lanzette in der Tasche, mit der ich während der gesamten Präliminarien spielte. Aber noch ehe ich meine sorgfältig vorbereitete Rede - darüber, wie teuer sie mir sei, obgleich ich sie so wenig kenne - zu Ende gebracht hatte, wusste ich, dass all mein Hoffen fruchtlos war. Sie begann zu kichern und suchte ihr
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