Die Vampire
mir berichtete, ist es durchaus möglich, ohne eine Periode wirklichen Todes vom warmblütigen in den untoten Zustand hinüberzuwechseln. In ihrem Fall ging die Verwandlung allem Anschein nach stufenweise vonstatten. Vlad Tepes wurde getötet, begraben und - wie es heißt - enthauptet, dennoch vermochte er sich selbst nach seinem Tod noch zu verwandeln. Seine Nachkommen pflegen zu sterben, bevor sie neu geboren werden, obgleich dies nicht in jedem Falle zutrifft. Art zum Beispiel ist meines Wissens nicht gestorben. Es ist durchaus möglich, dass der Tod eine wesentliche Rolle bei der Prägung des Typus eines künftigen Vampirs spielt. Verwandeln tun sie sich zwar alle, doch ist der Grad der Verwandlung nicht bei allen gleich. Die Lucy, die zurückkam aus dem Reich der Toten, war eine ganz andere als die Lucy, die von uns gegangen war.
Eine Woche nach Lucys Tod begaben wir uns bei Tageslicht zu ihrem Grab, um sie zu untersuchen. Sie sah aus, als ob sie schliefe; ich muss gestehen, dass sie mir schöner schien als je zuvor. Alle Plattheit war verschwunden; an ihrer Stelle stand eine gewisse Grausamkeit in den Gesichtszügen, die eine verstörende, nachgerade sinnliche Wirkung auf mich hatte. Später an jenem Tag,
der für ihre Vermählung bestimmt gewesen war, beobachteten wir aus sicherem Versteck, wie die Neugeborene in ihre Gruft zurückkehrte. Sie behelligte Art mit einigen Avancen und fügte ihm womöglich sogar leichte Bisse zu. Ich erinnere mich noch gut an das Rot ihrer Lippen und das Weiß ihrer Zähne, an ihren festen, schlanken Leib, in ein zartes Sterbehemd gehüllt. Wenn ich an Lucy denke, so denke ich an den Vampir, nicht an das warmblütige Mädchen. Sie war das erste Wesen dieser Art, das ich je gesehen habe. Merkmale, die heute ganz alltäglich sind - das Nebeneinander von scheinbarer Mattigkeit und Ausbrüchen von schlangenartiger Gewandtheit, die plötzliche Verlängerung der Zähne und Nägel, das charakteristische Fauchen des roten Durstes -, waren überwältigend in ihrem Zusammenspiel. Bisweilen erblicke ich Lucy in Geneviève, mit ihrem findigen Lächeln und den spitzen Augenzähnen.
Am Morgen des 29. sperrten wir sie ein und machten ihr den Garaus. Wir fanden sie in jener todesgleichen Trance, welche die Neugeborenen bei Tageslicht befällt, Mund und Kinn mit Blut befleckt. Art schritt zur Tat und trieb ihr den Pflock ins Herz. Ich trennte ihr den Kopf ab. Van Helsing füllte ihr den Mund mit Knoblauch. Nachdem wir das obere Ende des Pflockes abgesägt hatten, verlöteten wir den bleiernen Innensarg und schraubten den hölzernen Deckel fest. Der Prinzgemahl hat ihre Gebeine exhumieren und in der Westminster-Abtei beisetzen lassen. Eine über ihrem Grab angebrachte Gedenktafel verurteilt Van Helsing als Mörder und nennt - was vermutlich Arthur zu verdanken ist - allein Quincey und Harker, die beide den sicheren Tod gefunden haben, als Verbündete. Ehe wir uns auf den Weg machten, sagte Van Helsing: »So, meine Freunde, der erste Schritt unserer Arbeit ist getan, der Schritt, der uns am wehesten tat. Nun aber steht uns eine weit größere Aufgabe bevor: nämlich den Urheber von all diesem Leid ausfindig zu machen und ihn zu vernichten.«
14
Penny zeigt die Zähne
E r erwachte am frühen Nachmittag und ging hinunter, um sein Frühstück - kedgeree und Kaffee - einzunehmen und die Post zu studieren, die sein Diener Bairstow auf dem Tisch im Salon ausgebreitet hatte. Die einzige Sendung von Interesse war ein nicht unterschriebenes Telegramm, das aus nur drei Worten bestand: »Vergessen Sie Pizer.« Was aller Voraussicht nach bedeutete, dass der Limehouse-Ring berechtigten Grund hatte, den kürzlich verhafteten Stiefelmacher im Falle Silver Knife als Täter auszuschließen. Der Diogenes-Club hatte ihm per Boten Duplikate der Polizeiberichte und Vernehmungsprotokolle zukommen lassen. Beauregard überflog sämtliche Papiere, konnte jedoch nur wenig Neues entdecken.
Die Gazette meldete »die Ermordung und Verstümmelung einer Vampirfrau am gestrigen Tage nahe Gateshead« und wagte die Vorhersage, dass mit dieser neuerlichen Gräueltat »der Schrecken, welcher in London allmählich seinem Ende zuging, in der Provinz seine Auferstehung« feiern werde. Der Rest war heiße Luft - zwischen den Zeilen vermeinte Beauregard herauszulesen, dass die Neugeborene von ihrem Gatten vernichtet worden war, der sich ihrem Versuch widersetzt hatte, ihre beiden Kinder in Vampire zu verwandeln -, obgleich das Blatt
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