Die Vampire
Knüppeln und Rasiermessern bewaffnet durch die Straßen, prügelten sich und fielen über scheinbar verdächtige Passanten her. Nachdem die Bürgerwehren inzwischen all jene belästigten, die auf der Suche nach einer Frau nach Whitechapel kamen, klagten die Straßenmädchen nun weniger über die Bedrohung durch den Mörder als vielmehr über den merklichen Rückgang an Kundschaft. Die Geschäfte der Huren in Soho und Covent Garden hingegen blühten und gediehen. Ebenso ihre Schadenfreude.
Sie vernahm ein Stöhnen aus einer nahe gelegenen Gasse. Ihre Eckzähne schossen hervor wie die Klinge eines Springmessers, und sie erschrak. Sie trat in den verschatteten Durchgang und erblickte einen Mann, der eine rothaarige Frau gegen die Mauer presste. Geneviève hatte die beiden fast erreicht, wollte den Mörder schon ergreifen, als sie sah, dass es sich bei dem Mann um einen Soldaten im langen Mantel handelte. Die Hose baumelte um seine Knöchel, und er stieß mit den Lenden in sie, nicht mit einem Messer. Er bewegte sich mit verzweifelter Hast, gelangte jedoch nicht an sein Ziel. Die Frau, deren Röcke sich um ihre Taille knäulten wie ein Rettungsgürtel, stand in eine Ecke gedrängt, bog seinen Kopf in den Nacken und presste sein Gesicht an ihre federgeschmückte Schulter.
Die Hure war eine hübsche Neugeborene, die von allen nur »Carotty Nell« genannt wurde. Während ihrer Verwandlung war sie in die Hall gekommen, und Geneviève hatte ihr beigestanden, als sie erst erkaltet, dann in Fieberwahn gefallen war und ihr neue Zähne wuchsen. Ihr eigentlicher Name, so vermeinte Geneviève sich zu erinnern, war Frances Coles oder Coleman. Ihr Haar war viel dichter geworden, eine pfeilförmige Strähne reichte ihr fast bis zum Nasenbein. Drahtige, fuchsrote Borsten wuchsen an ihren nackten Armen und Handrücken.
Carotty Nell leckte die Schürfwunden am Hals ihres Freiers. Sie erblickte Geneviève, erkannte sie jedoch offenbar nicht wieder und zeigte dem Störenfried eine Reihe zaunpfahldicker Fangzähne; aus ihren rotgeränderten Augen rannen blutige Tränen. Lautlos zog Geneviève sich zurück. Schimpfend trieb die Neugeborene den Soldaten an, endlich seine vier Pence zu verschleudern. »Mach schon, du Schandkerl«, sagte sie, »komm, komm …« Keuchend hob ihr Kunde die Hand und vergrub sie in ihrem Haar, während er immer heftiger zustieß.
Auf der Straße angekommen, blieb Geneviève stehen und wartete,
bis ihre Augenzähne in die Kieferscheiden zurückgeglitten waren. Ihre Angriffslust ging über alle Maßen. Der Mörder machte sie ebenso nervös wie die Bürgerwehren.
Geneviève hatte Gerüchte gehört, Silver Knife sei ein lederbeschürzter Schuster, ein Ritualmörder polnisch-jüdischer Herkunft, ein malaiischer Seemann, ein Wahnsinniger aus dem West End, ein portugiesischer Viehknecht, der Geist von Van Helsing oder Charley Peace. Es sei ein Arzt, ein Hexer, eine Hebamme, ein Priester. Mit jedem neuen Gerücht wurden dem Pöbel neue Unschuldige zum Fraß vorgeworfen. Sergeant Thick sperrte einen warmblütigen Stiefelmacher namens Pizer zu seinem eigenen Schutz hinter Gitter, da jemand auf den irrigen Gedanken verfallen war, die Worte »Silver Nyfe« an seine Ladentür zu schmieren. Nachdem Jago, der Kreuzfahrer Christi, öffentlich verkündet hatte, der Täter könne nur deshalb ungehindert durch die Gegend streifen und nach Gutdünken morden, weil er Polizist sei, zerrte man einen neugeborenen Constable mit Namen Jonas Mizen in einen Hof unweit der Coke Street und spießte ihn mit einem Holzpflock. Auch Jago saß im Gefängnis, wenngleich Lestrade meinte, er solle demnächst auf freien Fuß gesetzt werden, da er für den Zeitpunkt von Mizens Tod ein unangreifbares Alibi vorweisen könne. Dem Reverend John Jago mangelte es offensichtlich nicht an Alibis.
Sie kam an dem Türeingang vorbei, wo Lily schlief. Das neugeborene Kind lag in ein paar zerfetzte Decken gehüllt, die es in der Hall bekommen hatte. Zum Schutz gegen das Sonnenlicht hatte es seinen winzigen Leib eingewickelt wie eine ägyptische Mumie. Der verschrumpfte Arm des Mädchens war schlimmer geworden, der nutzlose Flügel erstreckte sich von der Hüfte bis zur Achselgrube. Eine Katze lag an Lilys Gesicht geschmiegt; sie hatte dem halbtoten Tier die Zähne in den Hals geschlagen.
Abberline und Lestrade hatten Dutzende von Verhören geführt,
doch keinerlei brauchbare Hinweise erhalten. Die Polizeiwachen wurden ohne Unterlass von im Streit liegenden
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